Abstracts
Tag #1
13.7
PANELSLOT 1
Panel 1.1_ ÄSTHETISCHE PRAKTIKEN I: FIGURATION, METAPHER, FIKTION (DI, 13.07.2021, 11H30)
Chair: Daniel Feige
Sprecher:innen: Svetlana Chernyshova, Till Julian Huss, Ìngrid Vendell Ferran
Svetlana Chernyshova: Fragmentierte Epistemologien. Figurationen des Geteilten in der Kunst der Gegenwart
Gescreenshotet, geteilt, gepostet – die Praktiken des Kopierens, Kumulieren aber auch Parzellierens und Verweisens spielen in gegenwärtigen Wissensproduktionen und -Zirkulationen eine gewichtige Rolle. Auch in der Kunst – sei es im Kontext des Ausstellens, des Präsent-Werdens von künstlerischen Positionen oder des ‚Rezipierens‘ – wird das Fragmentierte bzw. das Fragmentieren immer stärker zum eigentlichen Handlungs- sowie Wahrnehmungs- respektive Erscheinungsmodus. So soll im Vortrag ausgehend von künstlerischen Arbeiten sowie erweiterten Orten der Kunstpraxis (etwa der Plattform Contemporary&) in einer Auseinandersetzung mit Positionen wie der Bruno Latours, Donna Haraways, N. Katherine Hayles und Peter Osbornes der Frage nach den Figurationen des Geteilten nachgegangen werden – als Praktiken und Taktiken des Fragmentierens, die das Verhältnis zwischen dem Ästhetischen und dem Epistemologischen aufs Neue zu verhandeln ersuchen.
Till Julian Huss: Die Metapher als Form ästhetischer Erkenntnis
Seit dem 20. Jahrhundert und besonders seit den 1960ern ist die Erkenntnisfunktion der Metapher verstärkt ins Interesse der Philosophie und Wissenschaftstheorie und -geschichte gerückt. In systematischen wie historischen Studien wurde ihr erkenntnistheoretisches Potential, auf neue und kreative Weise durch ein bildhaftes Vor-Augen-Stellen zu theoretischen Einsichten zu gelangen, erarbeitet. Während die Designtheorie sie seit der frühen Verwissenschaftlichung der 1960er Jahre zum – oftmals zentralen – Gestaltungsprinzip erklärt hat, ist sie in der Kunstwissenschaft nur vereinzelt in der Theoriebildung und der Revision des fachspezifischen Begriffskanons berücksichtigt worden. Ihre Bildhaftigkeit, Konkretion und Innovation werden dabei hervorgehoben, ihre erkenntnisstiftende Funktion aber zumeist vernachlässigt oder gar ausgeblendet. In meinem Vortrag möchte ich die design- und kunsttheoretischen Positionen zur Metapher vor dem Hintergrund der philosophischen und wissenschaftstheoretischen Aufwertung der Metapher analysieren. Mein Ziel ist es dabei, die Metapher als Form einer ästhetischen Erkenntnis in Design und Kunst zu bestimmen.
Íngrid Vendrell Ferran: Literarische Fiktion und die epistemische Relevanz subjektiver Perspektiven
Ziel des Vortrags ist es, die epistemische Relevanz subjektiver Perspektiven in literarischen Fiktionen zu besprechen. In dem Vortrag wird neben objektiven Gesichtspunkten auch subjektiven Ansichten eine erkenntnistheoretische Relevanz zugeschrieben. Konkret geht es mir darum, folgende doppelte These zu vertreten: Erstens werde ich für die These plädieren, dass subjektive Perspektiven kognitiv wertvoll sind; und zweitens soll die These vertreten werden, dass literarische Fiktionen teilweise kognitiv wertvoll sind, weil sie uns mit subjektiven Perspektiven vertraut machen. Der Vortrag ist in drei Teile gegliedert. Im ersten Teil wird anhand einer Diskussion in Auseinandersetzung mit Nagels Thesen in The View from Nowhere für die epistemische Relevanz subjektiver Perspektiven argumentiert. Im zweiten Teil wird diese These der epistemischen Relevanz der Subjektivität im Kontext von Fiktionen untersucht. Um meine Argumentation zu veranschaulichen, werde ich mit einem Beispiel aus der Literatur arbeiten, und dies wird der Gegenstand des dritten Teils meines Vortrags sein.
Panel 2.1_ PHILOSOPHISCHE ÄSTHETIK UND IHRE GESCHICHTE I: IDEA UND WISSEN (DI, 13.07.2021, 11H30)
Chair: Christine Abbt
Sprecher:innen: Ulrich Seeberg, Dimitri Liebsch, Tilman Schreiber
Ulrich Seeberg: Kunst und Erkenntnis bei Platon
Platons Dichterkritik scheint zunächst den mimetischen Künsten einen ihnen fremden Erkenntnisbegriff zu insinuieren. Weil die Dichter nicht über das Können oder Wissen verfügten, das den von ihnen dargestellten menschlichen Tätigkeiten zu Grunde liegt, blieben sie in ihrem eigenen Tun einem bloß äußerlichen Schein verhaftet. Als von den Musen inspirierte Künstler könnten sie zudem gar kein Wissen oder Können dieser Art aufweisen. Der Sinn dieser provozierenden Kritik ergibt sich erst aus einer ethischen Perspektive. So nämlich, wie auch der Handwerker oder Wissenschaftler sich in seinem Tun der Frage stellen muss, ob dieses bloß darauf zielt, in den Augen anderer gut zu erscheinen oder aber für sich selbst gut zu sein, und zwar unabhängig davon, wie dies anderen erscheint, so muss auch der mimetische Künstler über diesen Punkt Rechenschaft abgeben. Der Künstler hat daher – wie die Philosophie selbst – den nicht äußerlich fassbaren Unterschied zwischen Schein und Sein als Prozess der Selbsterkenntnis des Menschen im Verhältnis zum Guten und als solchem Göttlichen darzustellen und zu befördern. In diesem Sinne muss das Kunstwerk Anfang, Mitte und Ende miteinander verbinden können.
Dimitri Liebsch: Die Idee als Parasit des Bildes Kunst und Erkenntnis bei Platon
Die Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Erkenntnis stellt sich bei Platon vor allem als Frage danach, welches Verhältnis zwischen dem Bild (mimema, eikon, eidodlon etc.) und dem Herzstück seiner Philosophie, der Idee (eidos), besteht. Ich werde in drei Schritten belegen, dass es sich bei Platons ‘Idee’ um einen „Parasiten“ des Bildes handelt – „Parasit“ im Sinne von Michel Serres. Dazu sind erstens die gewaltsamen Dekontextuierungen zu skizzieren, die Platon vor allem in der Politeia helfen, dem Bild (als Artefakt) den Erkenntniswert zu absprechen. Zweitens ist zu erörtern, wieso Platon auf die intrikate Bestimmung einer Idee der Mimesis verzichtet (Ion, Politeia). Und drittens muss beschrieben werden, auf welche Charakteristika des Bildes (als Artefakt) Platon vom Phaidon bis über den Sophistes hinaus seine Rede über die Idee und über das Verhältnis von Idee und Ding stützt. Entgegen der neuerdings harmonisierenden Lesart, wonach uns bei Platon eine Metaphysik des Bildes (im weitesten Sinne) begegnet, werde ich zeigen, dass er seine Auffassung von Erkenntnis implizit durch jene Kunst alimentiert, die er explizit verurteilt. In genetischer Hinsicht bedeutet das: ohne Gemälde oder Skulptur keine Idee!
Tilman Schreiber: Wissenschaft als Kunst und Kunst als Wissenschaft Darstellungs- und Erkenntnisstrategien in Johann Heinrich Wilhelm Tischbeins Genius
Auch heute noch ist Johann Heinrich Wilhelm Tischbein (1751-1829) vor allem als Goethe-Porträtist bekannt. Wenig bis gar keine Aufmerksamkeit erhalten hingegen seine naturwissenschaftlich-naturphilosophischen Interessen, etwa auf dem Gebiet der Phylogenese. Dies ist nicht zuletzt deswegen bedauerlich, weil der Maler gerade in jenen Zusammenhängen das Problem von Darstellung und Erkenntnis der Natur, d.h. des epistemisch-ästhetischen Potenzials von Bild und Text aufwirft.
Mit der genannten Herausforderung setzt sich insbesondere eine Aquarell-Serie von 1817 auseinander, die der Künstler mit dem Titel Genius überschreibt. Dort, wie etwa das Beispiel des Blumensamens deutlich macht, ergänzt Tischbein seine Bilder mit selbst verfassten Gedichten. Weder das Aquarell noch der zugeordnete Text zielen jedoch auf eine einfache Beschreibung einer Blume. Stattdessen versuchen sie den gestaltenden Genius zu veranschaulichen, der sich im Wachsen und Blühen der Pflanze ausdrückt. Das Ziel von Tischbeins Kombination zweier ästhetischer Modi ist also nichts weniger als die Darstellung von etwas, das eigentlich unsichtbar ist. Um dieses Ziel zu erreichen – oder ihm zumindest näher zu kommen – rekurrieren sowohl das Aquarell als auch das Gedicht auf ein allegorisches Register.
Tischbein nutzt Malerei und Dichtung also nicht nur als zwei komplementäre ästhetische Modi, um die gestaltende Kraft der Natur zu veranschaulichen. Sie selbst wiederum stellen für ihn Ausdrucksformen jenes Genius dar, der auch die Blume zum Blühen bringt. Die Kombination von Text- und Bild-Ästhetik im Falle der Genius-Serie lässt sich somit als Ausdruck von Tischbeins Kunst-, Wissenschafts- und Natur-Verständnis deuten: Alle drei sind Kinder einer gemeinsamen Mutter.
Panel 3.1_ EPISTEMOLOGIEN DER IMPROVISATION I: IMPROVISIEREN (DI, 13.07.2021, 11H30)
Chair: Thomas Meckel
Sprecher:innen: Hyun Kang Kim, Nicola L. Hein, Simon Waskow
Dieses Panel thematisiert die künstlerisch-praktische Erkenntnis der Improvisation, die als kollektiver, emergenter Organisationsprozess erachtet werden kann. Dieses Panel geht der Frage nach, ob die Improvisation im Zeitalter der Digitalisierung und der KI ein neues Paradigma im Verhältnis zur Technik, Gesellschaft und Natur ermöglichen kann. Kann die Improvisation ein praktisches und theoretisches Modell anbieten, das sich den Herausforderungen des digitalen Zeitalters stellt und die Mensch-Maschine-Interaktion anhand der Praxis der Improvisation neu interpretiert? Lässt sich aus der Improvisation ein ökologisches Paradigma ableiten, das den klassischen Begriff der Kontrolle sowie den Dualismus von Geist und Materie, Technik und Natur, Subjekt und Objekt usw. durch ein neues Verhältnis ersetzen kann? Lässt sich aus der Improvisation ein neues Paradigma ableiten, das nicht von Trennung, Ausschließung und Kontrolle ausgeht, sondern von Relation, Inklusion und Solidarität?
Panel 4.1_ ÄSTHETIK UND AISTHETIK I: WAHRNEHMUNG, ATMOSPHÄRE, AFFEKT (DI, 13.07.2021, 11H30)
Chair: Michael Mayer
Sprecher:innen: Zhuofei Wang, Nuria Jetter, Klaus Schwarzfischer
Zhuofei Wang: Atmosphärisches Denken: Verschmelzung von Leiblichkeit und Geistigkeit in atmosphärischem Erleben
Die ästhetische Welterschließung lässt sich ursprünglich auf leiblich-affektive Betroffenheit zurückführen. Insofern verlangt die Atmosphären-Ästhetik nach einer gründlichen Auseinandersetzung mit den folgenden Fragen: Wie erleben wir in unseren Befindlichkeiten die Welt? Wie ist es möglich, dass wir uns den uns begegnenden Atmosphären gegenüber kritisch verhalten? Wie können wir durch die Betonung des Erlebens des Atmosphärischen einen leiblich-sinnlichen Zugang zur Welt erschließen, ohne andere ebenso berechtigte Aspekte wie etwa Werturteile zu verdrängen? Die oben genannten Fragestellungen erfordern noch eine kritische, reflektierende Einstellung gegenüber den gängigen Ansätzen, wonach sich atmosphärische Erfahrung weitgehend auf eine präreflexive Ebene beschränkt. In dieser Hinsicht kann sich Baumgartens Betrachtung des Zusammenspiels des Sinnlichen und Geistigen im ästhetischen Erlebnis anregend auf meine Überlegung von strukturellen Komponenten der Atmosphären auswirken. Aufgrund dessen wohnt eine Urteilsdimension in der sinnlich-leiblichen Erfahrung von Atmosphäre inne. Das atmosphärische Erlebnis bezieht sich nicht nur auf sinnliche Vergegenwärtigung der umgebenden Welt, sondern auch auf sinnliche Reflexion über wahrgenommene Dinge, die als „Geschmack in der weiteren Bedeutung im Bereich des Empfindbaren“ (Metaphysik, § 608) dient. So entsteht eine Verdopplung von Immersion und Emersion in der atmosphärischen Erfahrung, die maßgeblich von kulturellen Rahmenbedingungen geprägt wird. Anhand ausgewählter Beispiele widmet sich mein Vortrag den Wettererlebnissen in Europa, Japan und China, um die Einflüsse der Konzepte von Erhabenheit, Unbeständigkeit (Mujo) und Wandlung (Yi) aufzuzeigen, die den jeweiligen atmosphärischen Erfahrungen zugrunde liegen.
Nuria Jetter: Wahrnehmungstheorie als Voraussetzung der Interpretationstheorie? Panofsks Ikonologie reconsidered
Die von Erwin Panofsky entwickelte Ikonologie ist als kunsthistorische Interpretationsmethode über die Fachgrenzen hinaus bekannt. Sie lässt sich aber auch als Antwort auf ein philosophisches Problem verstehen. Dieses Problem sah Panofsky wie viele seiner Zeitgenossen in der historischen wie kulturellen Differenz zwischen dem geistigen Horizont der Interpreten und dem Entstehungskontext des Werkes. Denn nur eine virtuelle Überwindung dieser Differenz mache eine von Willkür freie Interpretation möglich.
Der Vortrag präsentiert die These, dass Panofskys Lösungsversuch eine bestimmte Wahrnehmungstheorie voraussetzt. Dass Panofsky diese Wahrnehmungstheorie auch tatsächlich vertrat, wird an seinen Texten aufgezeigt. Auf diese Weise thematisiert der Vortrag zugleich den grundsätzlichen Zusammenhang von Sinnlichkeit und Verstehen in den Geisteswissenschaften und macht darauf aufmerksam, wie die kunsthistorische Reflexion sich zu wahrnehmungspsychologischen und philosophischen Debatten verhält.
Klaus Schwarzfischer: Ästhetische Empfindungen als affektive Steuerung von Beobachtungshandlungen bei der kognitiven Modellbildung
Evolutionär und ontogenetisch primär stammt Erkenntnis aus Interaktionen, die als epistemische Handlungen eines situiert-verkörperten Beobachters zu verstehen sind. Erst sukzessive werden auch kognitive Simulationen (als mentales Probehandeln) und abstrakte Reflexionen möglich. Den Anfang bilden jedoch Prozesse der Enactive Cognition. Bereits diese Handlungen steuert ein affektives Feedback, das sich als einfachster Fall einer ästhetischen Empfindung interpretieren lässt (z.B. beim Spielen oder Tanzen ohne Musik). Positiv verstärkt wird die Effizienz (bei Sparsamkeit biologischer Ressourcen) und die Effektivität (bei möglicher Prognose von Handlungseffekten). Analog führt dies bei negativem Vorzeichen zu negativen ästhetischen Erlebnissen. Im Sinne der Embodied Cognition treten diese Wahrnehmungsurteile in diversen Granularitäten und massiv parallel auf: Ästhetische Erfahrung ist primär kein Urteil über einen externen Gegenstand, sondern über die Qualität der kognitiven Modellbildungs-Prozesse selbst als verkörperte Erkenntnis (Forward Modelling sowie Inverse Modelling als Basis für Antizipation/Prognose). Sie wird erkennbar als evolutionärer Lernverstärker, der bewusste wie auch unbewusste Prozesse durch affektives Feedback steuern kann.
Panel 5.1_ ÄSTHETISCHER WIDERSTAND I: ERFAHRUNG UND BEGRIFF (DI, 13.07.2021, 11H30)
Chair: Dieter Mersch
Sprecher:innen: Hermann Pfütze, Aida Bosch, Reinhold Görling
Hermann Pfütze: Ästhetischer Widerstand gegen Zerstörung und Selbstzerstörung
Was unterscheidet ästhetischen Widerstand von anderen Formen des Widerstands - etwa politischem, religiösem, ökonomischem Widerstand? Diese haben Feindbilder und Gegner, sind antagonistisch und kommen nicht aus ohne Gewaltkalkül; auch gewaltfreier Widerstand rechnet ja mit der Gewalt anderer. Ästhetischer Widerstand ist jedoch wesentlich nicht-antagonistisch und intrinsisch, d.h. er folgt inneren, nicht-destruktiven Motiven und wird nicht von außen mobilisiert. Das unterscheidet Ästhetischen Widerstand auch von der Ästhetik d e s Widerstands, die nicht zu trennen ist von der Ästhetisierung der Gewalt. Ästhetischer Widerstand ist schließlich nicht auf die Künste und ästhetischen Essentialismus beschränkt, sondern es geht auch um den soziologischen Blick, herauszufinden, was es bedeutet, ein Tun oder Lassen als ästhetischen Widerstand bezeichnen, und nicht als z.B. Agitprop oder Kosmetik.
Aida Bosch: Ästhetischer Widerstand gegen Zerstörung und Selbstzerstörung – anthropologische und phänomenologische Aspekte
Schwimmen wir mit dem Fluss, lassen uns von ihm tragen? Oder stemmen wir uns ihm entgegen? Ästhetischer Widerstand ist wohl beides, nur ein drittes ist er nicht: den Fluss zu vermeiden. Das Leben selbst ist ein Prozess der Formgebung und damit auch der Sinngebung (!), ein figurativer Prozess. Es ist Hingabe (ästhetisch) und Bemeisterung (Widerstand und Gestaltungskraft), es ist interpassiv (wahrnehmend) und interaktiv (gestaltend), pathisch (aufmerksam) und proaktiv (eingreifend). Das Leben selbst zu führen und eine Haltung zu sich selbst und zum Erleben zu gewinnen, wie für Menschen in ihrer exzentrischen Positionalität typisch und erforderlich, ist eine tägliche Herausforderung, die eben auch ästhetischer Art ist. Mal gerät uns die Form der Lebensführung besser, und das Leben fühlt sich gut und sinnhaft an, mal gerät sie uns aus der Form, franst aus, wird chaotisch, oder geht gar zu Bruch und liegt in Scherben vor uns. Dann ist der ästhetische Widerstand gegen Zerstörung und Selbstzerstörung und damit die feinnervige Selbstführung besonders gefragt. Mal wird das Leben mit einer allzu strengen Form geführt, der die ästhetische Austrocknung droht, mal gerät es zum Exzess und droht seine Form zu verlieren oder gar zu verspielen. Der bekannte Satz von Joseph Beuys „Jeder ist ein Künstler“ ist vor diesem Hintergrund mehr als eine Setzung, mehr als voluntaristisch oder autodidaktisch zu verstehen.
Im Lichte der Philosophischen Anthropologie Plessners, die auch eine Biophilosophie ist, Mit-Welt und Um-Welt thematisierend, Mittelbares und Unmittelbares, Körper und Leib, Gestaltung und Hingabe, bekommt die Frage der Formgebung mehrfache elementare Bedeutung. Dabei gibt es zwei elementare Ebenen der Formgebung, auf die ich näher eingehen werde: eine bio- und eine sozialtheoretische. Wir als Menschen sind danach immer und auf mehrfache Weise zur Lebensführung und zur Formgebung gegen innere und äußere Destruktionen aufgefordert – und damit zum ästhetischen Widerstand.
Reinhold Görling: Verkennen wir nicht die Psychoanalyse
Schon in seiner „Phänomenologie der Wahrnehmung“ spricht Merleau-Ponty vom „fast unpersönlichen Rand“ der Existenz, mit dem unser Leben, unser Körper und unser Denken mit der Welt verbunden sind und setzt diesen mit dem Unbewussten der Psychoanalyse in Bezug. Die Erweiterung der psychoanalytischen Reflexion hin zu früheren, nicht sprachlichen und sinnlich-körperlichen Prozessen, wie sie vor allem von Melanie Klein begonnen wurde, eröffnete auch einen weiten Bereich des Nachdenkens über ästhetische, ffektive und mentale Prozesse der Transformation. Der mental space, wie ihn etwa Wilfred R. Bion versteht, ist ein nicht mehr euklidischer Raum der Verwandlung der Relationen des Subjekts zu sich und zur Welt, in dem Prozesse des Wissens, des Erkennens wie des Verkennens, der Verbindung wie der Auflösung von Verbindung stattfinden. Wie sehr es auch in der aktuellen Kunst um eine Transformation dieses “fast unpersönlichen Randes“ geht, soll beispielhaft an „Caniba“ und „Somniloquies“, den beiden jüngsten Filmen von Lucien Castaing-Taylor und Verena Paravel, gezeigt werden. Transformation bedeutet in der Kunst (wie auch in der Psychoanalyse) nicht Aneignung oder Umwandlung in Identität, sondern das Erkennen der uneinholbaren Vorgängigkeit des anderen im Selbst.
PANELSLOT 2
Panel 3.2_ EPISTEMOLOGIEN DER IMPROVISATION II: KREATIVITÄT UND INTUITION (DI, 13.07.2021, 14H30)
Chair: DGÄ
Sprecher:innen: Bettina Bohle, Harry Lehmann, Aloisia Moser
Bettina Bohle: Das Neue in der Kunst – was lernen wir von künstlerischen Innovationen?
Innovationen sind üblicherweise mit einem Wissensfortschritt verbunden, d.h. bspw. neuen medizinischen Erkenntnissen, welche die Heilung einer zuvor als unheilbar geltenden Krankheit ermöglichen. Innovationen im Bereich der Künste scheinen demgegenüber weniger von einem derartigen Erkenntnisfortschritt und - streben gekennzeichnet. Sicherlich gibt es neue Techniken auch in der Kunst. Doch scheint der Fokus künstlerischen Tuns weniger auf dieser Art Fortschritt zu liegen. Ausgehend von einer Neuverortung dieses Themenkomplexes, die weniger den Begriff der Kreativität in den Blick nimmt als das Verhältnis von Neuem zu übernommenem Material und Mustern, widmet sich dieser Vortrag dem kunsteigenen Fortschritt, der als ein Streben nach adäquater Ausdrucksweise gegenüber der eigenen erlebten Zeit verstanden werden kann. Dies bedingt zwar Neuerungen in der Ausdrucksweise und künstlerische Innovationen, doch gilt es diese Neuerungen eigens zu bewerten und einzuordnen, auch bezüglich der Rezeption.
Harry Lehmann: Improvisieren mit Maschinen
Seit den 1970er Jahren entwickelte der afroamerikanische Posaunist und Komponist George Lewis interaktive Computerprogramme, mit denen man zusammen improvisieren kann. Sein wohl bekanntestes Programm nennt sich Voyager. Lewis tritt damit nicht nur in Konzerten auf, sondern trägt auch selbst zur Theoriebildung bei. In einer Reihe von Aufsätzen diskutiert er, was eine „musikalische Improvisation“ wesentlich ausmacht und inwiefern das „Improvisieren“ ein Grundzug menschlichen Handelns ist. Eine ähnliche Doppelstrategie verfolgt eine Forschungsgruppe des IRCAM in Paris, die in den letzten 20 Jahren das Improvisationsprogramm OMax entwickelt hat und parallel zu den damit veranstalteten Konzerten analysiert, was es heißt, dass Menschen und Maschinen „improvisieren“ können. In diesem Vortrag möchte ich zunächst Voyager und OMax vorstellen und anschließend die Erkenntnisse diskutieren, die sich im Zusammenspiel von Programmieren, Musizieren und Reflexion hieraus ergeben. Im Prinzip kann man die Entwicklung dieser Improvisationsprogramme als prototypische Artistic Research-Projekte betrachten.
Aloisia Moser: Die Epistemologie des Ratens
Was zwingt uns zum Raten, welche Phänomene präsentieren sich als Fragen? Wir raten nicht bloß, weil wir keine Inferenzen bilden können oder weil unsere Entscheidungen nicht direkt einsichtig sind. Das Raten hat mehr mit der Einbindung des Körpers in die Situation zu tun und ist kein einfaches Ordnen von Informationseinheiten. Die Antworten, die sich aus dem Raten ergeben, sind eher wie Muster, die vom Hintergrund her kondensieren, mehr wie Schätzungen. Oder aber es geht um Lichtblitze in Bruchteilen von Sekunden. Daher ist das Raten den Künsten und der Ästhetik näher als den Naturwissenschaften. Und genau in diesem Sinn ist es auch innovativ. In meinem Beitrag behaupte ich, dass das Raten ein wesentlicher Bestandteil jedes Denkaktes ist, nämlich jener Bestandteil, der überhaupt dafür sorgt, dass Neues gedacht werden kann. Mein Ansatz geht von einem reinen und kristallinen Denken zu flüssigeren und atmosphärischeren Ansätzen des Denkens über. Es geht darum, das Vertrauen in eine Intelligibilität zu stärken, die jenseits dieser strengen Muster liegt. Wir müssen uns auf Sinnkonstellationen hin öffnen, die je erlauben, dass eine Situation zu uns spricht. Anhand von Merschs Zerzeigung, Böhmes Atmosphären und Peirces Abduktion soll Phänomen und Erkenntnis des Ratens anfänglich in den Griff genommen werden.
Panel 4.2_ ÄSTHETIK UND AISTHETIK II: ERKENNTNISPROZESSE SINNLICHEN ERLEBENS (DI, 13.07.2021, 14H30)
Chair: Zhuofei Wang
Sprecher:innen: Virginie Roy, Katharina Voigt, Marcus Weisen
Situiertes Architektur- und Raumerleben hinterfragt den Begriff des ästhetischen Urteils als ein übergeordnetes und vom eigentlichen Erlebnis losgelöstes Abstraktum. In der ästhetischen Begegnung sind Ort und experiencer untrennbar mit einander verbunden – sinnliches, körperliches Erleben und Reflexion verweben sich zu einem Geflecht des Erkennens. Die bewusste Praxis der Vergegenwärtigung des weitgehend flüchtigen Erlebens und das Abrufen von implizitem Körperwissen befördern das Erkennen und bereichern den schöpferischen Prozess mit resonanten, sinnlichen und lebendigen Qualitäten. Einzelne Erlebnisse stechen als besonders einprägsam heraus, lassen einen aufmerken und kommen deutlicher zu Bewusstsein als andere. Aus der Vielschichtigkeit des Erlebens treten bestimmte Beobachtungen eindrücklich hervor und werden zu Initiationsmomenten einer sinnlichen Empfindung und einer berührenden Begegnung. In diesem Panel wird Erkennen von konkreten Erlebnissen räumlicher Situationen ausgehend aufgebaut, und u.a. auch experimentell für die Teilnehmer*innen nachvollziehbar. Das ‹Hier und Jetzt des Erlebnisses› und das ‹Hier und Jetzt der Erinnerung› werden mit einander in Relation gesetzt.
Das eigene Erleben des in das Panel integrierten Experimentierens bildet die gemeinsame Diskussionsbasis. Anhand von einfachen Explorationen und Erfahrungsübungen wird dieses spezifische Erleben für jede*n Teilnehmer*in nachvollziehbar, um so der Dichte des Erlebten gewahr zu werden. Die mikro- phänomenologische Methode macht präreflexives Wissen vergangener Erlebnisse in der Gegenwart zugänglich und spricht die Sensibilität des gespürten, sinnlichen Erlebens an. Der Körper in Bewegung, das Sich-Bewegen-im-Raum und die Beschreibung der Bewegung im mikro-phänomenologischen Interview eröffnen Zugänge zum verinnerlichten, impliziten Erleben und Körperwissen. Diese Methoden sind einander darin verwandt, dass sie imstande sind präreflexives und sinnliches Erkennen zu verdeutlichen. Die Einzelbeiträge des Panels verflechten sich zu einem dialogischen Austausch zwischen den drei verschiedenen Zugängen zum gemeinsamen Thema. Dieses Erkennen aus ästhetischen Erfahrungen eröffnet ein weites Feld des sinnlichen Erlebens und für die Forschung.
Darin ist der Prozess des Erlebens dem des Entwerfens in besonderer Weise verwandt; das gestaltende Konzipieren ist stets gleichermaßen an das gegenwärtige Erleben und das Erlebte gebunden und schöpft aus berührenden und einprägsamen Erlebnissen. Die Spuren eines vom erlebten Ereignis ausgehenden Erkennens und die Prozesse der impliziten, sinnlichen und räumlichen Wissenskonstitution werden nachgezeichnet. Das vertiefende Verständnis des sensiblen Erlebens befördert das Erkennen und bildet sowohl die Grundlage für das ästhetische Erleben wie für die Gestaltung.
Panel 5.2_ ÄSTHETISCHER WIDERSTAND II: MEDIEN DES WIDERSTANDES (DI, 13.07.2021, 14H30)
Chair: Dustin Breitenwischer
Sprecher:innen: Alena Strohmaier, Marina Martinez Mateo, Sophia Prinz, Christian Krüger
Angesichts jüngerer Protestbewegungen wie dem sogenannten „Arabischen Frühling“, der Demokratiebewegung in Hong Kong oder auch „Black Lives Matter” fragt das Panel nach Medien des Protests und nach ästhetischen Formen des Widerstands wie etwa (digitalen) Bildprotesten, Protestsymboliken und Denkmalsturz. Ein Schwerpunkt der Diskussion liegt dabei auf Fragen nach dem eigensinnigen Verhältnis von ästhetischem Widerstand und vorherrschenden Wissensordnungen: Inwiefern ist anzunehmen, dass ästhetischen Formen des Protests ein Mehrwert gegenüber rein diskursiven Praktiken innewohnt? Wie wird den hegemonialen Vorstellungen von Geschichte, Demokratie und Wissenschaft im Ringen um Identität und Differenz ein anderes Sehen und Wissen entgegengestellt? Und welche lokalspezifischen und global zirkulierenden Widerstands- und Wissenskulturen sind damit verknüpft? Diese und weitere Fragen werden auf einem multidisziplinär und international besetzten Podium in Einzelvorträgen mit anschließender Diskussion debattiert.
Panel 6_ ÄSTHETIK, ERKENNTNIS, POLITIK (DI, 13.07.2021, 14H30)
Chair: Jens Bonnemann
Sprecher:innen: Melanie Reichert, Sebastian Reinhard Richter, Gregor Schäfer
Melanie Reichert: Ästhetik, Erkenntnis, Politik: Versuch einer Verschiebung
Mein Vortrag verknüpft die Frage nach Bedingungen und Möglichkeiten ästhetischer Erkenntnis mit der kritischen Befragung der Bedingungen und Möglichkeiten ästhetischer Politizität. In Auseinandersetzung mit den Schriften Roland Barthes, Bertolt Brechts und Antonin Artauds möchte ich zeigen, dass das Ästhetische wesentlich durch Hermetik und Unberechenbarkeit gekennzeichnet ist. Diese Beschaffenheit steht jedoch der wissenschaftlichen wie auch der politischen Indienstnahme entgegen. Vielmehr sind derartige Ansprüche, insbesondere vor dem Hintergrund der zeitgenössischen mathematisch-ökonomistischen Prekarisierung des Inkommensurablen, kritisch zu befragen. Meine These ist, dass das Ästhetische weder in Wissenschaft, noch in Politik (oder gar Moral) aufgeht, obgleich es sowohl epistemische als auch subversive Potenz besitzt. Seine Unberechenbarkeit vereitelt die programmatische Indienstnahme und erlaubt genau deshalb eine Reflexion der untilgbar riskanten Beschaffenheit des Kulturellen.
Sebastian Reinhard Richter: Soziale Heterotopien der Vergemeinschaftung Vom Erproben in partizipativen Perfomance-Produktionen
Der von Foucault geprägte Begriff der Heterotopien als „verwirklichte Utopien“ lässt sich gerade auf partizipative Performance-Produktionen sinnvoll anwenden. Denn obwohl unsere Geschichte diverse Beispiele von Erprobungen sozialer Utopien enthält, haben deren Scheitern oder Gelingen wesentlich weitreichendere Konsequenzen und verfehlen den Charakter eines Experiments. Auf unterschiedliche Weise erproben Gruppen wie Ligna, Signa oder Gods Entertainment innerhalb ihrer Produktionen eine teilweise bis ins Detail umgesetzte alternative Gesellschaft. Dies ist nur möglich durch Beteiligung der Zuschauer*innen, welche Akteure werden. In jenen Beispielen verzahnen sich Ästhetik und partizipativ angereicherte Erkenntnis. Ich möchte anhand von Beispielen in meinem Vortrag diese Verbindung erläutern und eine modellhafte These formulieren.
Georg Schäfer: Kunst als Erkenntnisform der Krise. Perspektiven im Ausgang von Hegels Ästhetik
In systematischer Hinsicht begreift Hegel die Kunst als erste Sphäre des absoluten Geistes. Doch worin besteht der damit geltend gemachte – inmitten einer nachmetaphysischen Konstellation gewiss provokative – Anspruch der Absolutheit von Kunst? Offenbar kann die in Frage stehende Absolutheit für Hegel nicht bedeuten, dass die Kunst einfach jenseits des objektiven Geistes (der sozialen Verhältnisse) und jenseits der Geschichte situiert wäre.
Die gegenteilige Auffassung, die immanente Geschichtlichkeit der Kunst, bildet durchgehend vielmehr gerade einen konstitutiven – geistesgeschichtlich unter vielen Aspekten innovativen – Bestandteil von Hegels Vorlesungen über die Ästhetik. Und aus der Stellung der Sphäre des absoluten Geistes in Hegels System tritt klar hervor, dass diese sich, im Ausgang des objektiven Geistes, notwendig nur durch die Weltgeschichte hindurch ausbildet. Ebenso aber meint die damit geltend gemachte Geschichtlichkeit der Kunst offenbar keinen – etwa historistischen oder soziologischen – Reduktionismus auf die je partikulare Gestalt des objektiven Geistes, in dem sie situiert ist: Es zeichnet, so Hegel, das «Gebiet des Schönen» vielmehr aus, dass es «der Relativität endlicher Verhältnisse entrissen [ist]».
Das Absolute, das in der Kunst und als Kunst sich manifestiert, hat seinen Ort mithin ebenso inmitten des objektiven Geistes und der Geschichte wie es damit zugleich auf diese nicht reduzibel ist, sondern sich vielmehr – durch die Geschichte hindurch – über sie erhebt. Die von der Kunst spezifisch ins Werk gesetzte Transzendenz muss demnach – dies die These des vorliegenden Beitrages – mit Hegel so gedacht werden, dass sie als solche nicht einfach abstrakt über der Geschichte steht, sondern die Geschichte als etwas im emphatischen Sinne Neues, wie Hegel es mit dem Geistesbegriff explizit in Anschlag bringt, durchbricht. Im Vollzug dieses Durchbrechens macht die Kunst, als Form des absoluten Geistes, die Krisenhaftigkeit sozialer und historischer Verhältnisse kenntlich und artikuliert zugleich eine Antwort auf diese Krisenhaftigkeit. Vor dem Hintergrund des skizzierten Gangs der Argumentation ist es das Ziel des vorliegenden Beitrages, die darin enthaltene spezifisch kritische Erkenntnisform, welche die Kunst vollzieht, explizit zu machen: Zum einen, insofern die Kunst demnach als das Medium gedacht werden kann, in dem soziale und geschichtliche Konstellationen der Krise in Erscheinung zu treten vermögen. Zum andern, insofern die Kunst als diese kritische Erkenntnisform zugleich auch das Modell einer kritischen Handlungsform darstellt, als welche sie diese Erkenntnisform sinnlich vollzieht.
Diskussionsforum 1_ ÄSTHETIK: EIN EUROPÄISCHER WISSENSMODUS? (DI, 13.07.2021, 14H30)
Sprecher:innen: Michaela Ott, Judith Siegmund, Marita Tatari, Abidoun Akande, Parul Dave Mukherji
PANELSLOT 3
Panel 1.2_ ÄSTHETISCHE PRAKTIKEN II: MATERIALITÄT, FORM, ZEUGNIS (DI, 13.07.2021, 17H00)
Chair: Jörg Sternagel
Sprecher:innen: Christian Grüny, Sebastian Köthe, Hauke Ohls
Christian Grüny: Spielarten der Form
Auch wenn eine Philosophie der Kunst kaum auf den Formbegriff verzichten können dürfte, hat er seit Jahrzehnten eine schwierige Position: Ein Primat der Form oder gar Formalismus zu vertreten weckt Assoziationen an Ästhetizismus und emphatische Vorstellungen künstlerischer Autonomie, die sich längst als unhaltbar erwiesen haben, und scheint die gesellschaftliche Bedingtheit und Rolle der Kunst systematisch auszublenden. In jüngerer Zeit ist aber von verschiedener Seite in Literatur- und Kunsttheorie (Caroline Levine, Anna Kornbluh, Kerstin Stakemeier) ein neuer Formalismus vertreten worden, der sich explizit mit gesellschaftlichen Fragen beschäftigt und die Kunst in der Position sieht, über formale Artikulation gesellschaftliche Formen zu konstruieren und reflektieren bzw. in Gesellschaft zu agieren vermag. Der Vortrag wird diese Positionen rekonstruieren, sie in Beziehung zu älteren Theorien der Form bei Adorno und Langer setzen und die Frage stellen, inwiefern ein neu gefasster Formbegriff mit seiner Vermittlung von Form und Gesellschaft jüngeren Theorievorschlägen, die auf Gehalt und Intervention setzen, überlegen sein könnte.
Sebastian Köthe: Ästhetische Verfahren der Zeugenschaft in Guantánamo Bay
Jacques Derrida hat in einem Vortrag über Paul Celan behauptet, dass „jedes Zeugnis immer als ein ‚poetisches‘ wird erscheinen müssen“. Zeugnis und Gedicht seien einmalige Akte, die sich auf ein einmaliges Ereignis bezögen und mit der Sprache eine schöpferische Verbindung eingingen. Im Vortrag sollen Derridas Thesen mit den ästhetischen Verfahren der Zeugenschaft in Guantánamo Bay konstelliert werden. Einerseits lässt sich so der Blick schärfen für die ästhetischen Verfahren der Bezeugung „sauberer“ Folter: durch welche Erfindungen, Aneignungen und Rhetoriken artikulieren die Gefangenen die spurenarme Gewalt in Gedichten und Suizidnoten, Eingravierungen in Zellen und Körpern oder in ihren Memoiren? Andererseits lassen sich durch diese Konstellierung die historischen und poetologischen Vorannahmen Derridas sichtbar machen und kritisieren: die historische Spezifik der Zeugenschaft in den Fällen Celans und Blanchots und das damit einhergehende Konzept des Zeugnisses als singulär.
Hauke Ohls: Mehrwertige Ästhetik. Mary Bauermeisters Linsenkästen als „Box des Denkens“
Die deutsche Künstlerin Mary Bauermeister (*1934) erschafft mit ihren Material-Objekten aus Schrift, Zeichnung, Glas, Holz und optischen Linsen, den sog. Linsenkästen, eine mehrwertige Ästhetik. Sie beruft sich auf Gotthard Günthers Publikation Idee und Grundriß einer nicht- Aristotelischen Logik von 1959, die eine mehrwertige Logik ausarbeitet. Bauermeister verbildlicht dabei jedoch nicht die Philosophie von Günther, sondern generiert Kunstwerke, in denen unterschiedliche Ausformungen desselben Phänomens mit äquivalenter Seinsvalenz nebeneinanderstehen. Die künstlerischen Arbeiten werden zu einem Ort, in dem „zweiwertiges Denken“ überwunden wird. Dies geschieht nur, da Bauermeister einen Materialitätsbegriff anwendet, der mittels Eigenproduktivität einzelne Elemente in eine Meta-Ebene der Vernetzung überführt. Michel Serres’ Formulierung der „Box des Denkens“ dient als Metapher für Bauermeisters Vorgehen; die Kunstwerke sind ein Reflexionsgegenstand, wobei ihre Gestaltung (mehrwertige) Erkenntnis vermittelt.
Panel 7_ ERKENNEN IN PHÄNOMENOLOGIE UND ÄSTHETIK (DI, 13.07.2021, 17H00)
Chair: Eva Schürmann
Sprecher: Alessandro Bertinetto, Dominik Finkelde
Zwischen Phänomenologie und Ästhetik scheint es insofern natürliche Affinitäten zu geben, als beide den Erfahrungsmodus systematisch ernst nehmen. Seit Baumgarten ist zudem klar, dass die ästhetische Erfahrung eine erkenntnis-relevante Form hat. Doch Phänomene sind nicht identisch mit sinnlichen Gewissheiten. In dem Panel wollen wir gemeinsam über Übereinstimmungen und Unterschiede der Erkenntnisformen nachdenken.
Allessandro Bertinetto
Das Thema Gewohnheiten steht seit einigen Jahren im Zentrum der philosophischen Debatte. Ihre Beziehung zum ästhetischen Feld ist jedoch noch weitgehend unerforscht. In diesem Vortrag beabsichtige ich, den Begriff “ästhetische Gewohnheiten” sowie seinen Beitrag zur ästhetischen Erfahrung zu diskutieren. Ich schlage vor, dass ästhetische Gewohnheiten ein kognitives, affektives und praktisches “Know-How” darstellen, das durch die Ausübung ästhetischer Erfahrungen körperlich erlernt wird und gleichzeitig, und umgekehrt, die ästhetische Nische des Selbst strukturiert (scaffold). Ihre Phänomenologie ist die eines vitalen Rhythmus, der einerseits eine Vorbereitung auf die Freude an Veränderung und Neuheit bieten kann, die durch transformative ästhetische Erfahrungen geboten wird, andererseits aber auch eine weit verbreitete Sensibilität, das Vergnügen der vitalen Routinen von Lebensformen zu genießen (durch die Beziehung zu Artefakten und anderen Menschen), die unsere tägliche Umgebung gestalten.
Dominik Finkelde
Die Ästhetik der Filme David Lynchs zielt auf die Inszenierung einer traumatischen Begegnung mit dem, was nicht repräsentiert werden kann. Damit übertrifft er das traditionelle Verständnis von Kunst als Medium der Erweiterung unserer Wahrnehmungen und unserer Begriffe.
Panel 8_ ENTRELACS – ÄSTHETIK DER VERSCHRÄNKUNG (DI, 13.07.2021, 17H00)
Chair: DGÄ
Sprecher:innen: Benjamin Meyer-Krahmer, Tine Melzer, Nils Röller, J. Emil Sennewald
Wie ist eine künstlerische Produktion fassbar, die klar philosophische Bezüge artikuliert, um sich von ihnen explizit abzugrenzen? Ist der Begriff der Verschränkung, enggeführt im französischen entrelacs, geeignet? Wie kann er – in seiner phänomenologischen Bedeutung der Interdependenz und der von Lacan geleisteten Zuspitzung zur Verknotung von Realem, Imaginärem, Symbolischem – von Kommentar (schriftlich, bildnerisch) und Kritik abgegrenzt werden? Die Beiträge des Panels untersuchen diese Fragen anhand der Leitdifferenz von Sagen und Zeigen im Werk von Dieter Roth. Der Schweizer Künstler publizierte 1967 das Buch Mundunculum auch als kritische Auseinandersetzung mit Wittgensteins Tractatus. In seinen Beiträgen die Verflechtungen von Form und Aussage, Blick und Erscheinen aufnehmend, untersucht das Panel die Relationen Text-Bild, Prosa- Poesie, Zitat-Kommentar, Original und Reproduktion als Aspekte einer Ästhetik der Verschränkung von Sprechen und Zeigen als kunstbildender Handlung. Dafür wird in einem close reading der spezifischen Gestalt des Mundunculum ebenso nachgegangen, wie vergleichbare Rezeptionen Wittgensteins zur Kontextualisierung herangezogen.
Panel 9_ PERFORMATIVITÄT DES NETZWERKS (DI, 13.07.2021, 17H00)
Chair: Ole Kliemann
Sprecher:innen: Marie-France Rafael, Rebekka Kiesewetter, Annika Frye
Wie verändern sich Prozesse der Zirkulation, Vermittlung und Produktion in künstlerischen und gestalterischen Prozessen vor dem Hintergrund der Digitalisierung? Zwei Begriffe scheinen für diese Frage entscheidend zu sein: Netzwerk und Performativität. Netzwerkhaftigkeit ist ein wesentliches strukturelles Merkmal von Digitalisierung (Felix Stalder: Kultur der Digitalität 2017). Fragen des Netzwerks werfen beispielsweise unterschiedliche Formen von “vernetzten Displays” (Rafael) in der Kunst auf. Displays beziehen sich nicht nur auf einen Betrachter, sondern auch aufeinander. Im Design wiederum ergibt sich die Netzwerkhaftigkeit aus der Verbindung von Akteur_innen in sozialen, materiellen und ökonomischen Prozessen. Besonders vor dem Hintergrund des Digitalen ist dann ein Design nicht mehr klar von einem anderen zu unterscheiden. Die Digitalisierung wird – von kritischen Exponent_innen außerdem innerhalb der Open-Access- Bewegung – als eine Möglichkeit gesehen, die Besitz- und Machtverhältnisse sowie dominierende Wissensbegriffe in digitalen Netzwerken zu hinterfragen. Dabei spielen experimentelle und gemeinschaftliche (relationale) Formate und Aktivitäten eine wichtige Rolle. Bei den neuen Formaten und Aktivitäten in Netzwerken in Kunst, Design und Publizistik kann dann beobachtet werden, dass Formen der Performativität von besonderer Relevanz sind. Performativität ist prozesshaft und schließt viele Akteur_innen mit ein. Obwohl die Möglichkeiten der Digitalisierung die Entstehung und Ausweitung von Netzwerken grundsätzlich befördern, stellt sich die Frage nach den Besitzverhältnissen an, der Natur von und – in Konsequenz dessen – nach der Teilnahme an diesen Netzwerken. Diese Prozesse haben oft performativen Charakter.
Diskussionsforum 2_ EPISTEMOLOGIEN DER GESTE: KÖRPER, MEDIEN KÜNSTE (DI, 13.07.2021, 17H00)
Chair: Luca Viglialoro, Johannes Waßmer
Sprecher:innen: Oliver Ruf, Raimund Stecker, Johannes Waßmer, Luca Viglialoro
Seit der römischen Rhetorik (besonders bei Cicero und Quintilian) wurde die Geste als eine Ergänzung bzw. ein Analogon der Sprache und dadurch als Vehikel eines somatischen Wissens, einer ars, verstanden, die sich teils durch deiktische Mechanismen bestimmen lässt: Gesten begleiten unsere Diskurse und machen diese verständlicher, anschaulicher. Nach ihrer langen und hinsichtlich ihrer Wirkungsmächtigkeit erfolgreichen Geschichte in den Kunsttheorien und Ästhetiken der Moderne wurde die damit inaugurierte Tradition der „eloquentia corporis“ zunächst von Diderot, Kleist, Warburg und dann von Autoren:innen wie etwa Butler und Agamben aufgegriffen und neu verhandelt. Seitdem scheint die Geste allmählich eine weitere medienästhetische Epistemologie zu verkörpern. Diese besteht offenbar in einer immanenten Reflexivität, welche die Medien, v.a. auf paradigmatische Art die Kunst, durch ihre Leistungen prozessieren. Eine solche Reflexivität, so das Thema unseres Forums, ergibt sich aus einem Spannungsverhältnis zwischen Prozess und Präsenz im (Kunst-)Medium
Arbeitspanel I_ VERZEICHNUNGEN/ÜBERSCHREIBUNGEN (DI, 13.07.2021, 20H00)
Kompositionen von Sandeep Bagwati. Gespräche mit Dieter Mersch
Tag #2
14.7
PANELSLOT 4
Panel 10.1_ ÄSTHETIK UND PÄDAGOGIK I: ÄSTHETISCHE BILDUNG UND KOGNITION (MI 14.07.2021, 09H00)
Chair: Michael Mayer
Sprecher:innen: Lisa Schmalzried, Kathrin Borg-Tiburcy, Lukas Bugiel
Lisa Schmalzried: Banal oder gefährlich? – Über den kognitiven Gehalt von Kitsch
Kitsch sieht sich mit unzähligen Vorwürfen konfrontiert. Hierzu gehört der Vorwurf, Kitsch sei kognitiv wertlos. Von Kitsch könne man nichts Neues lernen, da er banal sei und es ihm an Tiefgang fehle. In einem Spannungsverhältnis hierzu steht die Kritik, Kitsch würde ein verzehrtes, vereinfachtes und falsches Bild von der Welt zeichnen, welches sein Publikum übernehmen würde, da Kitsch emotional so verführerisch sei. Ziel des Vortrages ist es, zu hinterfragen, ob Kitsch per se banal oder gefährlich ist. Versteht man Kitsch als Effektartefakt, dessen Funktion es ist, bei möglichst vielen Menschen gewisse plakative emotionale Reaktionen hervorzurufen, gehört Banalität zu typischen Kitschmerkmalen, denn um seiner Funktion gerecht zu werden, greift Kitsch u.a. auf Stereotype, Vereinfachungen und Übertreibungen zurück. Fehlt es Kitsch aber an kognitiven Gehalt, ist er nicht per se gefährlich. Die Gefahr entsteht erst, wenn das Publikum Kitsch nicht als Kitsch, sondern als Kunst ansieht und glaubt, Kitsch erfülle auch eine kognitive Funktion.
Kathrin Borg-Tiburcy: Übergänge und Schwebezustände zwischen ästhetischem und theoretischem Sinn - Reflexionen zur Bildungsbedeutsamkeit differenter Welt- und Selbstverhältnisse
In dem Vortrag werden Ergebnisse einer qualitativ-rekonstruktiven Studie präsentiert, die im Schnittfeld von Allgemeiner Pädagogik und Elementarpädagogik verortet ist. Im Zentrum stand die Frage, wie Kinder im Alltag einer Kindergartengruppe gemeinschaftlich ästhetischen Sinn herstellen. Das Ziel des Vortrags ist es hingegen zum einen aufzuzeigen, dass und wie sowohl ästhetische, als auch theoretische Verstehens- und Herstellungsordnungen von Sinn nicht nur fließenden Wechseln unterliegen und sich verschränken, sondern sich auch wechselseitig zu impulsieren vermögen. Zum anderen wird die bildungstheoretische Relevanz dieser Übergänge und Schwebezustände herausgearbeitet und an den Diskursen zu verschiedenen Weltzugängen (bspw. begrifflich-rationalen und ästhetischen) kritisch gespiegelt und diskutiert. Dabei werden exemplarisch ausgewählte Videoszenen und -analysen präsentiert. So werden philosophisch- anthropologische Zugänge mit Positionen aus der erziehungswissenschaftlichen Kindheitsforschung verbunden.
Lukas Bugiel: Musikalisches Wissen (lernen und lehren)
Bei der Begründung des Musikunterrichts an öffentlichen Schulen spielt seit den 1990er Jahren in der akademischen musikpädagogischen Diskussion die Überzeugung eine große Rolle, dass Musik eine „unersetzbare, durch kein anderes Medium zu gewinnende Erkenntnis und Erfahrung“ (Kaiser 2005, S.168) eröffne. Ich möchte in meinem Beitrag zunächst die argumentative Verteidigung dieser Überzeugung anhand von Texten zweier Musikpädagogen (nämlich Kaiser 1993, 1996 und Elliott 1992) rekonstruieren. Diese Rekonstruktion bietet mir eine Grundlage zur Analyse eines Begriffs nicht- propositionalen, nicht-sprachförmigen, musikalischen Erfahrungswissens (vgl. Bugiel 2021), mittels derer ich schließlich zu erläutern versuche, was es heißt, eben dieses Wissen zu lehren und zu lernen. Ich hoffe damit, einem Diskurs an der Grenze gegenwärtiger musikpädagogischer Philosophie und Musikphilosophie ein Thema zu erschließen.
Panel 11_ CHOREOGRAPHIEN DES GEFÜHLS: BEDEUTUNGEN UND WAHRNEHMUNGSERFAHRUNGEN IM TANZ (MI 14.07.2021, 09H00)
Chair: Ania Mauruschat
Sprecher:innen: Renate Bräuninger, Einav Katan-Schmid, Katja Vaghi
In diesem Panel zeigen wir drei Perspektiven von Verständigungsprozessen in der Tanz-Ästhetik auf. Unsere Perspektiven beschäftigen sich mit dem tanzenden Körper als Kommunikationsmittel, der kulturelle Bedeutungen mit Wahrnehmungserfahrungen verzahnt.
Die Ästhetik der Intensität zwischen Prozess und Rezeption (Renate Bräuninger)
Die Erzeugung von Intensität (Garcia, 2016) ist im zeitgenössischen Tanz (z.B. Anne Teresa de Keersmaeker und Lemi Ponifasio) an die Stelle mimischen Ausdrucks getreten. Der Zuschauer wird aufgefordert nicht durch das Lesen von Zeichen nach Bedeutung zu suchen, sondern durch die Dichte der sich wiederholenden Bühnenereignisse kinästhetische Empathie zu erfahren. Die Geste als solche ist nicht mehr ausdruckstark, sondern sie wird performativ durch Entfremdung und endlose Wiederholung. Letztere werden unmittelbarer erfahren, aber vermitteln sich nicht. Eine Reihe diskursiver Positionen eröffnen sich im Spektrum zwischen Prozess und Rezeption.
Prozessbeschreibungen von Choreograf*innen lesen sich wie Rezepturen, Zuschauer trauern lesbaren Zeichen nach, doch welche Verschiebung ästhetischer Wahrnehmung kann auf einer meta-reflexiven Ebene festgehalten werden und entzieht sich nicht völlig der Darstellung durch Sprache?
Berührende Formen des Tanzes (Einav Katan-Schmid)
Ausgehend von phänomenologischen und pragmatischen Ansätzen in der Ästhetik und der Analyse somatischer und choreographischer Praktiken in den Arbeiten dreier israelischer Choreographinnen stellt dieser Vortrag die Betrachtung des Tastsinns als kontemplativen ästhetischen Sinn heraus. Während traditionell die "entfernten" Sinne des Sehens und Hörens als relevanter für die ästhetische Wertschätzung angesehen werden als die "proximalen" Körpersinne Geruchs-, Geschmacks- und Tastsinn - verstehe ich die ästhetische Erfahrung von Körperbewegungen durch ein Bewusstsein des Tastsinns als eine Quelle für die wechselseitige Transformation von (symbolischen wie tatsächlichen) Bedeutungen im Tanz. Berührung ist, wie ich hier argumentiere, analysiere und erkläre, eine sinnlich- performative Tätigkeit, die das intime intersubjektive Verständnis erweitert. Ich betrachte die Relationalität von berührenden Gefühlen aus beiden Positionen – der einer Tänzer*in und der einer Zuschauer*in. Dadurch möchte ich eine Verbindung schaffen zwischen individuell wahrgenommen Affekten und symbolischen Formen im Tanz.
Tanz lokalisieren: Tanz und Deixis (Katja Vaghi)
Beim Schreiben und Tanzen können Erfahrungen in symbolischer Form als komprimierte Botschaften übermitteln werden. Das Charakteristikum von Sprache ist die Verwendung von deiktischen Wörtern, die der Sprechakt in einer bestimmten Perspektive (Hanks, 2008) verankert, und die Wahrnehmung des Sprechers/Senders in Raum, Zeit, und die Beziehung zu einer Person oder einem Gegenstand verorten. Wenn man den Tanz als eine Form der Kommunikation betrachtet, weist er im Gebrauch der Deixis Parallelen zu Sprache auf. Da unsere Erfahrung immer eine verkörperte Erfahrung der Welt ist, die durch den Körper und die Sinne vermittelt wird, bieten die deiktischen Koordinaten von Raum, Zeit und “Person" ein vereinfachtes dreidimensionales Modell der verdichteten Tanz-Erfahrung. Ausgehend von Mieke Bals (1999, 2008) Anwendung der Deixis auf die bildende Kunst werde ich anhand von Beispielen aus Jiří Kyliáns Arbeiten den Vorteil dieser Kategorien für die Tanzinterpretation erläutern.
Panel 12_ ÄSTHETIK UNTER BEDINGUNGEN DES DIGITALEN (MI 14.07.2021, 09H00)
Chair: Brandon Farnsworth
Sprecher:innen: Martin Beck, Alexander Gerner
Martin Beck: Innen/Außen-Verhältnisse und die postdigitale Rekonfiguration des Körpers
Die Philosophie des 20. Jahrhunderts stand im Zeichen einer Kritik des ‚In‘ im Namen des, Ex‘: Innerlichkeit, Intentionalität und intuitive Selbstgewissheiten wurden im Namen von Exteriorität, einer Konzeption des extended mind und dem Verständnis von Medien als Extensionen kritisiert. Diesem Vektor der philosophischen Kritik steht ein Vektor der technologischen Entwicklung gegenüber, der ein aufdringliches Näherkommen und Hineingehen von Technologie in das Innere von Körper und Geist beschreibt. Dies erscheint etwa als Dimensionsverlust von Technologie: Gegenüber der dreidimensionalen ‚Körpersprache‘ modernen Industriedesigns und der zweidimensionalen ‚Bildersprache‘ postmodernen Kommunikationsdesigns bringen Wearables wie Google Jacquard und Implantate wie Neuralink neue medienästhetische Interaktionsformate hervor.
Auf der Ebene von Machttechnologien werden die einschließenden Architekturen der Disziplinargesellschaft durch devices ersetzt, die nicht wir bewohnen, sondern die uns bewohnen. Schließlich adressiert das Interaktionsdesign heute nicht mehr – wie früher die Desktopmetapher – das verkörperte Handeln im Zeugzusammenhang, sondern als ‚behavioural design‘ unmittelbar unsere Neurochemie. Dem Vortrag liegt die Idee zugrunde, dass diese Entwicklungen uns dazu auffordern, Innen/Außen-Verhältnisse neu zu denken und fragt nach deren Bedeutung für die Ästhetik.
Alexander Matthias Gerner: Hacking into GPT-3 algorithm and staging parasitic
and noisy AI- games with artefact(or)s
Artefacts endowed with AI and machine learning algorithms will be introduced as AI-reckoning/ human aesthetic judgment games with Arte(f)actor(s). Arte(f)act(or)s are built to show artificial creativity and to operate, compose, improvise, perform, co-act and co-embody with humans or their artefacts on stage. Inside the modern mechanistic “operative imperative” (Engelmann 2017), I shift the focus from the idea of Kant and Schillers “free play” to dramaturgies of parasitic and noisy games we play with artefact(or)s. Could noise - and the parasite as in Michel Serres - rather than being reduced to a reductive information concept of calculative algorithmic rationality even be an aesthetic hacking practice of inconceptuality and unpredictability, glitch and leap, obfuscation, obliteration and camouflage while tempering with becoming an “Other” in technological, aesthetic-epistemological and political-ethical praxis?
Diskussionsforum 3_ PHILOSOPHIE UND IMPROVISATION IN DEN KÜNSTEN (MI 14.07.2021, 09H00)
Chair: Dieter Mersch
Sprecher:innen: Marcello Ruta, Alessandro Bertinetto, Annika Frye, Daniel Martin Feige, Christoph Haffner
In den vergangenen Jahrzehnten wurde der Begriff „Improvisation“ nicht nur zu einem innovativen Schwerpunkt von u.a. anthropologischen, neurologischen und kognitiven Studien. Der Begriff der „Improvisation“ hat auch die Erforschung traditioneller ästhetischer Gebiete, wie der Philosophien der Musik, des Theaters, des Tanzes, der Poesie und sogar der bildenden Kunst und der Literatur bereichert und dynamisiert. Dieses Panel nutzt die Gelegenheit der bevorstehenden Veröffentlichung des Routledge Handbook of Philosophy and Improvisation in the Arts (ed. by A. Bertinetto u. Marcello Ruta, 2021) und wird einigen Autoren, die an diesem Band teilgenommen haben, eine Stimme geben, um wichtige theoretische und ästhetische Aspekte der Improvisationskunst philosophisch auszuloten und zu diskutieren. Im Zentrum des Panels stehen dabei Fragen wie: Was sind die ontologischen Besonderheiten der Improvisation? Was sind ihre spezifischen ästhetischen Eigenschaften? Welchen Beitrag leistet Improvisation zur Kunstphilosophie im Allgemeinen und zu individuellen künstlerischen Praktiken und zur Frage nach der künstlerischen Normativität und der ästhetischen Rezeption insbesondere? Durch die Beschäftigung mit diesen und ähnlichen Fragen beabsichtigen wir in einen produktiven Dialog zur Epistemologie der Improvisation zu treten.
Diskussionsforum 4_ ALTERNATIVES TO BE DISCUSSED – ZUR NEUKONFIGURATION ÄSTHETISCHEN WISSENS IM DESIGN (MI 14.07.2021, 09H00)
Chair: Elke Gaugele
Sprecher:innen: Martina Fineder, Fabian Hemmert, Bianca Koczan, Sarah Owens, Angeli Sachs
Das Diskussionsforum stellt die Neukonfiguration ästhetischen Wissens im Design zur Debatte. Design und Produktion sind genauso wie die Rezeption und Kritik ästhetischer Objekte im Anthropozän durch komplexe Problemstellungen herausgefordert, die sich im Kontext verschränkter Globalisierungs-, Dekolonisierungs-, Partizipations- und Demokratiediskurse sowie Digitalisierungs-, Klima- und Nachhaltigkeitsdebatten bewegen.
Von Objekten, Produkten und Prozessen aus der eigenen Forschung in diesen Feldern ausgehend, thematisieren die Diskutant*innenangewandter Gestaltungsbereiche wie der visuellen Kommunikation, der Mode, des Ausstellungs-, Produkt-, oder des Interaction-Designs ihre jeweiligen Methoden und ästhetischen Praxen der Wissens- und Erkenntnisproduktion. Um Wechselwirkungen, Kontroversen und Grenzen der jeweiligen praxisbasierten Wissens- und Erkenntnisproduktionen aufzuzeigen, ist geplant, parallel zur Diskussion, die unterschiedlichen Zugänge in Form verschiedener Schaubilder (Skizzen, Diagramme o.ä.) zu visualisieren und als Ergebnis in Gestalt eines Mappings zu manifestieren. Im Kontext der ‚Practice based Design Research‘ und der damit verbundenen interdisziplinäreren Neukonfigurationen ästhetischen Wissens geht es darum, das Spannungsfeld zwischen den „Designerly Ways of Knowing“ (Cross 1982) und den „Inventive Methods“ (Lury/Wakeford 2012) einer sozial- und kulturwissenschaftlichen Wissensproduktion neu auszuloten und zueinander in Beziehung zu setzen.
PANELSLOT 5
Panel 2.2_ PHILOSOPHISCHE ÄSTHETIK UND IHRE GESCHICHTE II: KANT UND NIETZSCHE (MI 14.07.2021, 11H30)
Chair: Michael Mayer
Sprecher:innen: Larissa Berger, Christoph Poetsch, Jorge Luis Cerna
Larissa Berger: Kants Propädeutik zu aller schönen Kunst – oder: Wie man durch Homer ein guter Künstler wird
Für Kant ist Schönheit wesentlich nicht-begrifflich und kein Gegenstand von Erkenntnis. Kunst als etwas willentlich Bewirktes kann jedoch, so scheint es, nur durch Begriffe hervorgebracht werden. Dieses Problem löst Kant durch das angeborene, nicht erlernbare Talent des Genies, durch das „die Natur der Kunst die Regel gibt“ (KU: 307). Dennoch formuliert er eine „Propädeutik zu aller schönen Kunst“, die in „der Kultur der Gemütskräfte durch diejenigen Vorkenntnisse [ ], welche man humaniora nennt“, besteht (KU: 55). Welchen Beitrag leisten humaniora, d. h. Kenntnisse antiker Literatur, zur Erschaffung von Kunst? Sie befördern, so werde ich zeigen, die Humanität, die in der Rezeptivität für Mitgefühl und der Mitteilungsfähigkeit von Gefühlen besteht. Diese Fähigkeiten helfen dem Künstler dabei, Kunstwerke zu erschaffen, die sich durch emotional belebte ästhetische Ideen auszeichnen, somit das freie Spiel der Einbildungskraft in besonderem Maße anregen und daher gute Kunstwerke sind.
Christoph Poetsch: Zu den erkenntnistheoretischen Dimensionen des ästhetischen Urteils in Kants ‘Kritik der Urteilskraft’
Das freie Spiel der Erkenntniskräfte gilt als zentrales Schlüsselelement des ästhetischen Urteils in Kants dritter Kritik und wird gemeinhin als eine spezifische Lusterfahrung des individuellen Subjektes verstanden. Dies ist zweifelsohne richtig, greift aber – so die vorliegende Grundthese – entschieden zu kurz, da es die (meta)epistemologischen Dimensionen der kantischen Ästhetik aus dem Blick zu verlieren droht. Jenseits der Lusterfahrung gilt es, so soll gezeigt werden, die erkenntnistheoretische Tiefenstruktur des ästhetischen Urteils freizulegen: In diesem Urteil erkennen wir, erstens, dass wir erkennen. Zweitens erkennen wir hierin, dass wir Menschen als Menschen, jenseits individueller Unterschiede, über eine gemeinsame Basis des Erkennens verfügen. Und drittens, dass dieser allgemeinmenschliche Grund wesentlich an die intersubjektive Diskursivität unserer Erkenntnisse gekoppelt ist. Kants ästhetisches Urteil weist somit eine genuine Verschränkung von Ästhetik und Erkenntnis auf, deren Relevanz gerade in Zeiten, die von immer stärkeren Partikularismen und Abgrenzungstendenzen geprägt sind, nicht zu unterschätzen ist.
Jorge Luis Cerna: Wider die Ästhetik, zugunsten der Ästhetik: der Fall Nietzsche
Ausgehend von der Auseinandersetzung Nietzsches mit der philosophischen Ästhetik der Neuzeit hat dieser Vortrag zum Ziel, den Status der ästhetischen Frage im mittleren Werk Nietzsches zu erhellen. Indem Nietzsche gegen ein systematisches Verständnis von Kunst Widerstand leistet und so die Vorstellung von Ästhetik als eigenständiger wissenschaftlicher Disziplin scharf kritisiert, vertritt er zugleich das modern-ästhetische Interesse daran, Kunst philosophisch zu begreifen bsw. die Konjunktur künstlerischer Praktiken für die Philosophie zu untersuchen. Diese Spannung lässt sich an der Ambivalenz seiner Redeweise über den Begriff „Kunst“ feststellen: in seinem Werk befinden sich sowohl übermäßig diffuse Ausdrücke als auch recht präzise Charakterisierungen. In Bezug auf diese unentrinnbare Zweideutigkeit schlage ich vor, auf die Sinnschwankung der Kunst den Fokus zu legen. Denn gerade in den Sinnänderungen zeigt sich der Status der ästhetischen Frage in Nietzsches Philosophie: Insofern Nietzsche sich dem Problemfeld der Ästhetik und ihres Vokabulars strategisch bedient, um seine Arbeitshypothesen ständig umzuformulieren, betrifft die Pluralität des Ästhetischen die Frage nach der Methode.
Panel 13_ LECTURE PERFORMANCE: KUNST UND VERFAHREN (MI 14.07.2021, 11H30)
Chair: Ania Mauruschat
Sprecher:innen: Silvan Jeger, Emanuel Mathias, Florian Leitner
Silvan Jeger: Das ironische Als-Ob der Pop-Pose als exemplarisches Verfahren einer Theorieproduktion der Künste
Ich beschäftige mich mit der Pose in der Pop-Musik. Dabei interessiert sie mich als ironische Als-Ob-Pose, deren theoretisches Potential ich nutzbar machen möchte, um die Posen zu entlarven, die wir alle immer einnehmen – so meine Vermutung – auch ausserhalb von Pop-Musik und Pop-Kultur. Meinem Vorhaben liegt ein frühromantisch geprägtes, selbstreflexives Ironieverständnis zugrunde, welches nicht bloss distanzierende Gesten beschreibt, sondern eine erkenntniskritische Position für sich in Anspruch nimmt. Ich untersuche, ob sich ein solches ironisches Posieren als Posen-Theorie und damit als exemplarisches Verfahren einer eigenen Theoriebildung der Künste beschreiben lässt. Dazu berufe ich mich auf das hybride Forschungs- und Präsentationsformat der Lecture-Performance, in welchem sich im besten Fall Sagen und Zeigen als ebenbürtig und sich ergänzend gegenüberstehen. Die These der theoriebildenden Pop-Pose wird zwar diskursiv hergeleitet, lässt der Pose aber immer auch Platz, ihre eigene Theorie zu bilden. Dazu montiere ich unterschiedliche Fragmente – seien es pop-musikalische Äusserungen, Performance-Momente oder vortragsähnliche Inputs –, die die herausgearbeitete ironische Strategie der Pop-Pose anwenden, prüfen und zeigen, und untersuche dadurch ihr theoriebildendes Potential.
Emanuel Mathias: An den Rändern des Feldes - Über die Anwesenheit des Forschers in seinem Material
In dem practice-based Research Projekt „An den Rändern des Feldes“ geht es um Momente der Beobachtung in der Feldforschung und der damit verbundenen Erkenntnisarbeit des/r Naturwissenschaftlers/in im Feld. Anhand der visuellen Sammlungen und Erzählungen von an Menschenaffen forschenden Freilandprimatolog*Innen wird untersucht, wie weit die Generierung und der Gebrauch visueller Artefakte in der Feldforschung Rückschlüsse auf die individuelle Perspektive des Forschers im Feld wiedergeben. Dabei wird das Feld der Primatologie um die Perspektive des Künstlers und damit einer Beobachtung zweiter Ordnung erweitert. Die Analyse von vorhandenen und die Generierung neuer Bilder bilden den Versuch das optisch Unbewusste (R.Krauss) wie implizite Wissen der Forschung sichtbar werden zu lassen. In den Fragestellungen des Gebrauchs des Mediums Fotografie in Forschungszusammenhängen und in der Reflexion des eigenen Standpunktes möchte diese Arbeit im diskursiven Feld der künstlerischen Forschung theoretisch wie künstlerisch wirksam werden.
Florian Leitner: Technologien der Stimme und Ästhetiken des Medientheaters
Das Medientheater der Humboldt-Universität zu Berlin ist ein Projektraum für performative Arbeiten, die das Zusammenspiel von Theater und - gegenwärtigen wie historischen - Medientechnologien ausloten. Der Fokus liegt dabei auf den Apparaten, die nicht als Instrumente menschlichen Handelns, sondern als eigenständige theatrale Akteur innen behandelt werden. Ausgangspunkt ist die Annahme, dass erstens Technik nur dann als Medium fungiert, wenn sie im Prozess ist, das heißt in performativen Zusammenhängen auftritt, und dass sich zweitens bei der Betrachtung von Medientechnik ein epistemischer Mehrwert daraus ergibt, wenn diese Zusammenhänge eine ästhetische Performanz aufweisen. Vor diesem Hintergrund werden im Medientheater technologische und ästhetische Praktiken miteinander konfrontiert, um ihre Interdependenz auszuloten und den sich dabei stellenden epistemologischen Fragen nachzugehen: Welche Wissensformen emergieren aus der Kopräsenz von menschlichen Akteur:innen, Zuschauer innen und Medientechnologien in einer theatralen Performance? Inwiefern wird hier Wissen über das technologische Gefüge unserer Welt produziert? Wie ist es als ästhetisches Wissen strukturiert? Als Wissen technologischer Subjektivitäten? Der Vortrag geht diesen Fragen nach, indem er eine Reihe von Performances vorstellt und diskutiert, die in den vergangenen Jahren im Medientheater entwickelt wurden. Im Zentrum stehen dabei einige Experimente mit menschlichen und künstlichen Stimmen. An diesen Fallstudien soll exemplarisch aufgezeigt werden, wie das Technische - in diesem Fall die Technologien zur Aufzeichnung, Übertragung und Verarbeitung akustischer Information - zunächst einmal zur Reproduktion menschlicher Symbolpraktiken dient, um dann einen davon abgekoppelten ästhetischen Eigensinn zu entfalten. Dieser konstituiert eine eigenständige technische Symbolpraxis, die allerdings erst als solche erscheint, wenn sie in den menschlichen Blick genommen bzw. zum Gegenstand menschlichen Hörens wird. Zu diesem Zweck mobilisiert der Vortrag Strategien der Lecture- Performance und arbeitet mit computergenerierten Stimmen und dem Setup von Alvin Luciers Soundperformance I Am Sitting in a Room, um die Stimme des Medientheaters als Beispiel für eine_n technikästhetischen Akteur_in zu Wort kommen zu lassen.
Panel 14_ NARRATIVE DES MODEWISSENS (MI 14.07.2021, 11H30)
Chair: Petra Leutner
Sprecher:innen: Petra Leutner, Antonella Giannone, Elke Gaugele
Das Panel analysiert historische und zeitgenössische Formen der Wissensproduktion in der Mode. In einem großen historischen Bogen von der Aufklärung bis zur Globalisierung im 21. Jahrhundert werden verschiedene ästhetische Wissensformen der Mode und deren spezifische kulturelle Produktivkräfte im Hinblick auf Verkörperung und Verräumlichung nachgezeichnet. Zum einen geht es dabei um die Frage nach der Entfaltung neuer Narrative, mit denen sich die zukünftige Bedeutung von Mode und Design beschreiben lässt. Zum anderen werden unterschiedliche Formen und Verfahren praxisbasierter ästhetischer Erkenntnis spezifiziert und zur Debatte gestellt: von implizitem Wissen, das sich in Entwurfsprozessen und Kollektionen äußert, über Mimesis, Kopie, Mapping, variierender Textilität und globaler Verbreitung von Wissen bis hin zur ästhetischen Arbeit und deren Ökonomien. – Dies ist eine Strukturierte Paneldiskussion zur Spezifik des Modewissens auf der Grundlage der drei Vorträge.
Beitrag 1: Mimesis und Kopie als globale Produktionsformen der Mode
Petra Leutner, Akademie Mode und Design Hamburg
Der Begriff des Entwurfs steht im Zentrum designtheoretischer Überlegungen, wenn es um gestalterische Methodik geht. Der Aspekt der Kopie ist aber seit Coco Chanels Legitimierung des Kopierens ein unverzichtbares Element modischer Designstrategien; die Kategorie der Nachahmung wiederum wird seit Simmels Modetheorie für die Verbreitung von Mode virulent. Die Theoretikerin Joanne Entwistle stellte kürzlich die Frage, inwiefern „implizites Wissen“ im globalen Maßstab die modischen Abläufe beschleunige. Der Vortrag skizziert die Bedeutung der Begriffe für das Mode- und Designwissen und stellt sie in den Kontext der Globalisierung.
Beitrag 2: Mode als ‚Critical Design’, Antonella Giannone, Kunsthochschule Weißensee Berlin.
Der Beitrag setzt sich mit unterschiedlichen kritischen Ansätzen und Positionen auseinander, in welchen dominante Normen und Prozesse des Modedesigns hinterfragt werden. Welche Rolle spielen diese experimentellen, spekulativen und meist nicht kommerziellen Praktiken von Modedesign im Kontext des gesamten Modesystems? Inwieweit kann das kritische Wissen, das im Kontext solcher Designprozesse generiert wird, die Zukunft materieller, sozialer sowie ästhetischer Aspekte der Mode beeinflussen?
Beitrag 3: Globales Wissen und spekulative Verwandtschaften, Elke Gaugele, Akademie der Bildenden Künste, Wien. Unter Bezugnahme auf eine Foucault'sche Archäologie des Wissens untersucht der Vortrag die historische Weltkarte der "Fünf Hauptgattungen der Menschen in Ansehung ihres Kleidungsstoffes" als ein exemplarisches Artefakt und paradigmatischen Baustein globalen Modewissens. Diese 1787 zuerst in Friedrich Justin Bertuchs und G.W. Kraus Pandorra veröffentlichte Karte wurde von Robert von Spalart für seinem „Versuch über das Kostüm“ (1796) kopiert und dort zum Fundament einer einzigartigen Theorie globaler vestimentärer Verwandtschaft. Jenes, im wissenshistorischen Kontext der Aufklärung situierte, gleichermaßen spekulative wie visionäre Modell, soll hier aus einer de-kolonisierenden Perspektive näher beleuchtet werden.
Panel 15_ KRITISCHE INTERVENTIONEN (MI 14.07.2021, 11H30)
Chair: Dieter Mersch
Sprecher:innen: Karen van den Berg, Joachim Landkammer, Matthias Franck
Karen van den Berg: Kunst als Erkenntnisverweigerung
In der Kunst des 21. Jahrhunderts lassen sich drei markante Diskurs- und Praxisfelder beobachten. Neben einer sozialen Wende in der Kunst, in deren Folge ethische Maßstäbe bei der Beurteilung von Kunst immer dominanter werden, ist eine Konjunktur künstlerischer Forschung zu beobachten, die in aufklärerischer Absicht Begriffe wie Wissen, Erkennen und Kritik ins Zentrum rückt. In einer dritten Variante entzieht sich die Kunst dagegen einem diskursiven Weltbezug und stellt Sphären des Nicht-Begrifflichen her, in denen es nichts zu verstehen gibt. Doch erschöpft sich diese Kunst nur darin machtvolle Oberflächen und sinnliche Präsenzeffekte zu erzeugen? In meinem Vortrag möchte ich am Beispiel der Malerei von Katherina Grosse und Ryan Gander zeigen, dass gerade diese dritte Variante auf das Erzeugen von Situationen hinwirkt, in denen gegenwärtige Weltverhältnisse ausgelotet werden. Anstatt dabei auf Wissen und Erkennen abzuheben, geht es dabei um eine Übung im Aushalten des Offenen.
Joachim Landkammer: Die Lesbarkeit der Kunst – Notation, Erkenntnis und Anti-Performativität
Wenn nur ein reflektiertes, methodisch gesichertes Medium auch ein Medium der Erkenntnisgewinnung sein kann, wird die „epistemische Kraft“ der Künste davon abhängen, ob und inwieweit sie selber rational faßbare Gegenstände von Wissen und Erkenntnis sein können, also davon, welche Zugänge intellektueller und rationaler Art sie neben der sinnlichen-ästhetischen Wahrnehmung zulassen, ja vielleicht sogar voraussetzen und erfordern. Für die abendländische Musik gilt es traditionellerweise als ausgemacht, daß es keinen anderen Weg zum ihrem vollständigen und wirklichen Verständnis gibt als den über ihre Schriftform, also über das Notenlesen der Partitur. Der Vortrag unternimmt Überlegungen zur kaum geklärten Frage, was man eigentlich „liest“, wenn man – statt Musik zu hören - Noten liest (und was man dann „versteht“ und „erkennt“), und zur Frage, ob es auch für die anderen Künste Formen der Notation gibt (oder: geben sollte), die einen „analytischeren“ Zugang zu ihnen ermöglichen und sie so erst zu jenen kognitiv belastbaren verstandenen Verständnis-Instrumenten machen, die sie zu sein beanspruchen. Die Überlegungen sollen sich zur provokatorischen These verdichten, daß Kunst ihr Erkenntnispotential erst durch ihre Entsinnlichung und durch den Verzicht auf performatorische Vergegenwärtigung wirklich ausschöpfen kann. Die Musik, „die geistigste alles Künste“, ist durch ihre „heimliche Neigung zur Askese“ diesen Weg zu einem „Jenseits der Sinne und sogar des Gemüts“ (so Wendell Kretzschmar in Thomas Manns Doktor Faustus) nur vorangegangen: ihr genügt es, gelesen zu werden.
Matthias Franck: Die ästhetische Instabilität
Die vergangenen Jahrzehnte zeichnen sich durch eine immer größere ästhetische Instabilität aus, die mit Konformismus und einem mehrdimensionalen Verlust an Würde einhergeht. Ausgehend vom Verständnis, dass Ästhetik als menschliche Kondition eine komplexe Wahrnehmung ist, die das Unsichtbare erfassbar macht, stellt sich die Frage, welches ästhetische Narrativ abhandengekommen ist, sodass der gesellschaftliche Raum als nicht mehr stimmig erachtet wird? Stefan Zweigs hellsichtiger Aufsatz über Die Monotonisierung der Welt thematisiert diese Entwicklung bereits 1925. Fast einhundert Jahre später ist in ästhetischer Hinsicht ein desaströser Zustand erreicht, dessen Wurzeln in der totalen Ökonomisierung sämtlicher Lebensbereiche liegen. Ganz konkret sichtbar und erfahrbar wird diese Verwüstung in seelenloser Architektur ohne Rücksicht auf charakteristische regionale Bezüge, ohne gesellschaftliche Verantwortung. Ausgereifte Gesamtkonzepte werden durch Wirtschaft und Politik verweigert, weil das einzige Kriterium das lineare Wachstum ist. So erscheint die Provinz provinzieller als je zuvor; Mittelzentren sind gleichgeschaltet, regionale Eigenheiten und Unterschiede werden zugunsten des Durchschnitts ausradiert. Seit Jahrtausenden gestalten Menschen ihren Raum und damit die Dimensionen ihres Lebens und ihrer Erkenntnisse. Ästhetik betrifft in diesem Raum alles, was die Sinne anspricht und ist damit essentieller Teil des Humanums. Diesen Raum gilt es neu zu gestalten – in Abkehr vom cartesianischen Weltverständnis, insbesondere mit dem Ziel, wieder sehen zu lernen und die menschliche Selbstachtung mit der Achtung von Umwelt und Natur in Einklang zu bringen.
Diskussionsforum 5_ FORSCHUNG IM MEDIUM DES ENTWERFENS – EIN EPISTEMISCHER PARADIGMENWECHSEL? FALLBEISPIELE UND PHILOSOPHISCHE ANALYSE (MI 14.07.2021, 11H30)
Sprecher:innen: Lidia Gasperoni, Matthias Ballestrem, Marcelo Stamm, Oya Atalay Franck
Die entwurfsbasierte Forschung in transdisziplinären Szenarien hat in den letzten Jahren über die Entwurfstheorie und -praxis hinaus erheblich an Bedeutung gewonnen. Weltweit etablierte, entwurfsbasierte Promotionsprogramme (artistic research undpractice-based PhD) widmen sich der Erforschung ihrer Methoden und ihres Wissenschaftlichkeitsanspruchs. Die entwurfsbasierte Forschung wirft dabei vom Prozessbegriff bis hin zum Erkenntnisbegriff grundlegende Fragen für die Philosophie neu auf und verlangt nach einer tiefgreifenden Reanalyse und Reevaluation ästhetischer Praxis. Im moderierten Diskussionsforum wird die Frage verhandelt, ob und wie entwurfsbasierte Forschung einen genuin eigenen epistemischen Gehalt hat und wie dieser philosophisch begründet werden kann. Im Zentrum der Diskussion stehen dabei die methodologischen Ansprüche eines emergierenden Forschungsparadigmas sowie die Neuverortung der Ästhetik als Disziplin sinnlicher Kognition.
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Panel 2.3_ PHILOSOPHISCHE ÄSTHETIK UND IHRE GESCHICHTE III: NEGATIVITÄT UND AFFIRMATION (MI 14.07.2021, 14H30)
Chair: Katerina Ktirlova
Sprecher:innen: Anna T. Steffner de Marco, Florian Uckmann, Rahma Khazam
Anna T. Steffner de Marco: Sturz ins Nicht-Wissen
Kunst vermittelt Wissen und führt zu Erkenntnisgewinn. Doch könnte man sie nicht auch als eine Negation von Wissen begreifen? Der Vortrag will den Versuch wagen, den Erkenntnisverlust in der Kunsterfahrung, in der Kommunikationssituation zwischen Betrachter*in und Kunstwerk, zu ermitteln. Für Georges Bataille findet Kommunikation erst dann statt, wenn sich Subjekt und Objekt auf das Nicht-Wissen eingelassen haben. Es muss eine Verschiebung von „(Wissen-)Haben“ zu „Sein“, von „Erkenntnis“ zu „Existenz“ stattfinden: die Verschmelzung von Subjekt und Objekt. Beide treffen sich aber erst an jenem Punkt, wo sie sich jeweils ins Nichts versetzt haben. Wie soll das gelingen?
Der Prozess des Sturzes ins Nicht-Wissen kann durch einen bestimmten Modus von Negation erzeugt werden: die stérēsis (Privation). Auf diesem Weg wird die Kunst ihres „Wissens“ beraubt. Dieser Prozess von Ent-zug, von Ent-lernen macht letztlich das Fehlen des Wissens als das nunmehr Anwesende spürbar. Dass sich das Wissen durch den gewaltsamen Akt der Beraubung in ein Nicht-Wissen umgeschlagen hat, ist schmerzhaft. Doch gerade dieser Schmerz bringt die Subjekte in der Kommunikationssituation dorthin, wo Bataille sie haben will: an den Punkt, an dem sie das Unbekannte völlig zulassen und erst dadurch mit dem Kunstwerk zu kommunizieren beginnen.
Rahma Khazam: The Science of Sensuous Cognition
In defining aesthetics as the science of perception, Alexander Baumgarten stressed the cognitive dimension of sensory perception, arguing that it afforded clear but confused cognition, in contrast to the intensified clarity of reason. Indeed, for Baumgarten, such confused or pregnant perceptions had a greater impact than clear ones, insofar as they included more marks and thus possessed more force. This paper will explore Baumgarten s notion of sensuous cognition and show how different aspects of it continue to play out in contemporary aesthetics. Take Christoph Menke, who emphasizes the power of the sensate image, or Jacques Rancière, for whom aesthetics is concerned not just with the perception of art but with sense perception in general – or even artists such as Olafur Eliasson who blur the borders between science and art. Like the other examples I shall mention, they critique or expand on the precepts of the science of sensuous cognition.
Panel 10.2_ ÄSTHETIK UND PÄDAGOGIK II: VISUELLE BILDUNG (MI 14.07.2021, 14H30)
Chair: Miriam Schaub
Sprecher:innen: Andrea Sabisch, Volkmar Mühleis, Jörg Sternagel
Bilderfahrungen stellen elementare Weisen des Bezugs zur Welt, zu Anderen und zum Selbst dar. Sie sind eingelassen in ein weites Feld des Sinnlichen, das nicht im Sichtbaren endet und aktualisieren sich als responsive, performative und affizierende Durchquerung und Umwandlung eines Ereignens durch Bilder im Plural. Dabei stellt jede Bilderfahrung eine Modifikation vorgängiger Bilderfahrungen und zugleich eine potenzielle Grundierung für zukünftige dar. Eine derart in unserem Panel zu konturierende Visuelle Bildung zielt darauf ab, medienspezifische Eigenlogiken des Visuellen in Relation zu Erkenntnisweisen in Subjektivierungs- und Sozialisationsprozessen zu reflektieren. Damit greift sie eine Forschungslücke ästhetischer und kultureller Bildung auf, indem sie mediale Ausdrucksweisen untersucht und eine epistemologische Binnendifferenzierung hinsichtlich der Medialität, Prozessualität und Responsivität anstrebt, die quer zu allen formalen und nicht-formalen Bildungsbereichen steht und damit eine transversale mediale Perspektive einnimmt.
Panel 16.1_ MUSIK UND ERKENNTNIS I: GIBT ES „MUSIK“? (MI 14.07.2021, 14H30)
Chair: Daniel Martin Feige
Sprecher:innen: Tobias Janz, Simone Mahrenholz, Georg W. Bertram
Im Zuge der scheinbaren Erosion der Grenzen der Künste und der Ausbreitung von ästhetischen Praktiken wie denen des Performativen, des Dokumentarischen, des Konzeptuellen sind die Konturen des Musikbegriffs heute unklarer als noch vor 50 Jahren. Zudem hat der Aufschwung postkolonialer Perspektiven wie ethnologischer Forschungen die Einheit und den historischen Sinn des Begriffs fragwürdig werden lassen. Das Panel möchte im Rahmen einer interdisziplinären Diskussion die Frage stellen, was es angesichts der Entgrenzungstendenzen des Musikbegriffs oder gar der Frage, ob es „Musik“ als klar abgegrenzten Gegenstandsbereich gibt, heißen könnte, einen Begriff musikalischer Praktiken zu formulieren. Lässt sich der historisch und kulturell aufgeladene Begriff der „Musik“ dezentrieren? Und was wäre damit gewonnen? Welche alternative Form der begrifflichen Artikulation könnte angesichts der Vielheit funktional und formal unterschiedenen musikalischen Praktiken noch geeignet sein, sie in ihrem Zusammenhang verständlich zu machen? Und wie ist die Frage nach Musik als Modus der Erkenntnis in diesem Feld zu verorten?
Panel 17_ SELF-NARRATION, SELF-KNOWLEDGE, SELF-DESIGN (ENGLISCH) (MI 14.07.2021, 14H30)
Chair: Brandon Farnsworth
Sprecher:innen: Judith-Frederike Popp, Sue Spaid, Jochen Schuff
The recent wave of “autofiction” in literature as well as many works by so-called “post-internet” artists bring into focus how our relationship to ourselves is both constituted and thwarted by the different ways it can be narrated or otherwise mediated. In this panel, we work out ways to grasp human self-understanding as being inherently powered by aesthetic techniques of both experiencing and producing ourselves. In order to systematize these techniques, we aim to join artistic, theoretical and everyday perspectives on aesthetic actualizations of self-comprehension.
In her talk “From contemplation to action. Patterns of aesthetic self-design in Art and Design” Judith-Frederike Popp aims to connect aesthetic self-relations from art and design contexts with everyday life and subjectivity. By analyzing exemplary patterns in artistic and design-related practices, she proposes a conception of aesthetic self-design that relies on combining receptive and productive activities as well as an interplay of individuality and collectivity.
For Sue Spaid’s talk “Taking Gifts Seriously: A Challenge to Self-Knowledge?,” she will address the role gifts play in disrupting, diverting or bypassing “aesthetic self-design.” Gifts provide recip- ients options, whether a book, some music, jewelry or clothing, they may not consider otherwise. Of course, recipients are free to ignore said gifts. That we trust the giver enough to enact the gift poses a huge problem for self-knowledge. Can other people know us better than we know our- selves? Or are gift enactments rather aesthetic experiences no different than engaging films, books or art exhibitions?
Jochen Schuff’s paper “Criticism and Self-Exploration in Douglas Crimp” considers how criticism on the one hand and autobiography on the other relate to their respective objects. On the surface, both seem to be forms of understanding – of artworks, or of myself – after the fact. The pa- per will instead argue for a relation of interdependence, in exchange with Douglas Crimp’s reflections on life, art, and criticism in his Before Pictures.
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Diskussionsforum 6_ HETERONOMIEÄSTHETIK, SOZIALE ÄSTHETIK, KAPITALISMUS DER KREATIVITÄT UND KÜNSTLERISCHER AKTIVISMUS (MI 14.07.2021, 17H00)
Chair: Dieter Mersch
Sprecher:innen: Emmanuel Alloa, Oliver Marchart, Juliane Rebentisch
Dass das Ästhetische eine Erkenntniskraft sui generis besitzt, die gegen andere traditionelle Formen von Erkenntnis verteidigt werden will, diese Überzeugung führte gemeinhin dazu, dass für das Ästhetische eine irreduzible Eigengesetzlichkeit – kurz: Autonomie – reklamiert wurde. Sich für Ästhetik starkzumachen hieß daher lange, und ganz selbstredend, im Sinne einer Autonomieästhetik zu argumentieren. Im Lichte neuerer Entwicklungen büßt diese Usance an Selbstverständlichkeit ein. Eigenschaften, die als genuin ästhetisch galten, wie Kreativität oder Gelegentlichkeit, hat sich der flexibilisierte Arbeitsmarkt zu eigen gemacht, während umgekehrt viele Künstler ihre Praxis zunehmend als Form von sozialem Aktivismus verstehen, bei dem Differenz von Kunst und Nicht-Kunst an Brisanz verliert. Wie weit lässt sich das Ästhetisierungsparadigma ausweiten, ohne gehaltlos zu werden? Muss die Ästhetik gegen ihr ‚Anderes‘ abgegrenzt werden, oder ist sie im Umkehrschluss genau dieser Spielraum sinnlich-sittlicher Unbestimmtheit, an dem immer schon anderes im Spiel ist?
Diskussionsforum 7_ THEOPHANIE UND THEOPOESIE – AISTHETISCHE ÜBERSCHREITUNGEN (MI 14.07.2021, 17H00)
Chair: Jörg Sternagel
Sprecher:innen: Florian Arnold, Markus Rautzenberg, Mirjam Schaub
Götter haben ihre Medien und Medien ihre Götter. – Seit den Stilisierungen der ersten Höhlenmalereien, über die buchstäblich geflügelten Schuhe des Hermes, dem Gott der Diebe wie der Händler, bis in das Heute in aesthetischer Spekulationen hinein, unterhält die gestalterische Praxis eine affirmative oder kritische, bisweilen auch ignorante Beziehung zu Phänomenen des Übersinnlichen, Göttlichen‚ des Transzendenten überhaupt. Was auch immer damit gemeint sein mag, schon der Erscheinungscharakter ästhetischer Erfahrung, selbst noch in seiner Negation, deutet auf die Potentiale seiner Überschreitung – etwa im Zeichen klassischer Theophanien, der Evokation oder auch umgekehrt profaner Epiphanien. Dabei handelt es sich um mediale Grenzbereiche, die abseits des Okkulten drängende Fragen der Epistemologie betreffen: so bspw. die nach einer Ereignishaftigkeit von Wahrheit aus dem Blickwinkel christologischer Inkarnation oder mystischer Immersion. Ausgehend von konkreten ästhetischen Phänomenen und medialen Perspektiven widmet sich das Panel aus kultur- und medienphilosophischer Perspektive der Frage, wie diese Überschreitungserfahrungen in einem doppelseitigen Sinne durchaus strategisch‚gemacht‘ werden.
Panel 18_ GELENKT UND FREI – AUFMERKSAMKEIT, IMPROVISATION UND MUSIKALISCHE ZEITLICHKEIT (MI 14.07.2021, 17H00)
Panel mit drei Vorträgen und integriertem Musikforum
Chair: Judith Siegmund
Sprecher:innen: Susanne Schmetkamp, Fabian Goppelsröder, Christoph Haffter, ENJUTI (Andreas Völk, Laurenz Gemmer, Kenn Hartwig, Thomas Sauerborn)
Gibt es eine spezifisch ästhetische Aufmerksamkeit? Wenn ja, ist sie notwendig für die ästhetische Erfahrung und die mit ihr verbundenen besonderen Erkenntnisweisen? Aufmerksamkeit ist für unser Selbst- und Weltverhältnis unabdinglich. Hören wir ein Geräusch, «merken» wir «auf» (Waldenfels) und versuchen, es einzuordnen, zu beurteilen. Mit Hilfe unserer Aufmerksamkeit selektieren, strukturieren wir äußere und innere Eindrücke, und zwar in der Regel instrumentell im Hinblick auf bestimmte Aufgaben und Entscheidungen.
Unter den Be- dingungen der Leistungs- und Beschleunigungsgesellschaft wird die Fähigkeit, Aufmerksamkeit zu kontrollieren, zu steigern und zu lenken, nachgerade zu einer Schlüsselkompetenz. Auch die Philosophie des Geistes hat sich in jüngerer Zeit vor allem am Ideal der fokussierten, aufgabenbezogenen Aufmerksamkeit ausgerichtet. Und doch gibt es eine Pluralität an Aufmerksamkeitsmodi, darunter die distribuierte Aufmerksamkeit, die Hyperaufmerksamkeit (Vigilanz), die Versenkung (deep attention) oder Achtsamkeit (mindfulness, attentiveness). Welche dieser Modi kommen in der ästhetischen Erfahrung zum Zug?
Eine ästhetische Aufmerksamkeit verbindet die konzentrierte Hinwendung zum Gegenstand mit dem Loslassen von selbstbezüglichen Interessen, Zwecken und Kategorisierungen. Weil wir ästhetisch anders aufmerksam sind, so die These, werden uns Erfahrungsgehalte zugänglich, die sich der propositionalen Eindeutigkeit entziehen: Affektstrukturen und emotionale Dynamiken, das sinnliche Sosein mit seinen zeitlichen und räumlichen Intensitäten, aber auch implizite Orientierungen und spekulative Gedanken, die dem Erkennen und Handeln zugrunde liegen. Diese These wollen wir unter Einbezug des kompositorisch-improvisatorischen Konzepts der Köln-Berliner Formation Enjuti entwickeln und überprüfen, denn die Musik scheint uns als eine Kunst der Aufmerksamkeitsmodulation und die Improvisation als Vollzug von verschiedenen Aufmerksamkeitsmodi wie fokussierter, geteilter oder frei schwebender Aufmerksamkeit für unsere Frage paradigmatisch.
Ablauf: Kurze Einführung, Musikbeitrag (Stream), drei Vorträge, Gesamtdiskussion
Arbeitspanel 2_ THINKING AESTHETIC THINKING THROUGH AESTHETIC RESEARCH PRACTICES (MI 14.07.2021, 17H00)
Alex Arteaga, Emma Cocker, Nicole Wendel and Sabine Zahn
This project focuses on ways in which aesthetic research practices realize a specific form of thinking: aesthetic thinking. The aim of this project in the framework of this conference is to explore the following working hypotheses through aesthetic research practices as a foundation for different forms of reflection and dialogue between philosophical aesthetics and aesthetic research.
Firstly, aesthetic research practices systematize forms of preeminently sensorimotor and emotional action, which are neither target-oriented nor will-based.
Secondly, aesthetic action enables and intensifies immediate and unmediated interactions between researchers and the inquired issues, co-constituting a field of nonhierarchical, shared agencies.
Thirdly, aesthetic interaction conditions the ongoing processes of sense-making between researchers and the inquired issues with the agency of destabilizing the habitualized forms and meanings with which these issues appear.
Fourthly, on this basis, aesthetic thinking allows for disclosing new intelligibilities for the researched issues, that is, it enables the potentialities of radically new understandings to arise.
For the conceptual framework and a detailed schedule of this project’s activities during the conference, please see: https://www.researchcatalogue.net/view/1190257/1190258
Tag #3
15.7
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Panel 19_ ANDERES WISSEN: ÄSTHETISCHES WISSEN UND NICHTWISSEN (DO 15.07.2021, 09H00)
Chair: Katerina Ktrilova
Sprecher:innen: Henryetta Duerschlag, Malte Fabian Rauch, Jens Badura
Henryetta Duerschlag: Wie sich das Zeigen zeigt. Hans Finslers Sehschule
Als Heinrich Wölfflin-Schüler brachte sich Hans Finsler Mitte der 1920er Jahre das Fotogrfieren selbst bei und wurde zu dem Gründer der ersten Fotofachklasse der Schweiz. Seine Sehschule brachte nicht nur Größen der modernen Fotografie, wie Werner Bischof und Ren Burri, hervor, sondern führte auch bei weniger berühmten Alumni zu einer Déformation professionelle im Neuen Sehen. In der ästhetisch- analytischen Befragung der aufzunehmenden Gegenstände trainierte Finsler seine Schüler*innen, indem er sie Eier fotografieren ließ, wortlos Lampen während Aufnahmen verstellte oder indirekt Kritik durch ein «man könnte vielleicht» äußerte. In diesem Sinne entfaltete sich die Wirkung seiner Pädagogik aithetisch. Vor diesem Hintergrund wird in diesem Vortrag gefragt, wie sich solche historischen Verfahren des Zeigens zeigen lassen. Dabei wird das Erkenntnispotential aus Zeitsprüngen und Rekursionen als ästhetische Forschungspraktik diskutiert.
Malte Fabian Rauch: L’ art comme non-savoir: Inoperativität, Deaktivierung, Unlearning
Die Schlüsselrolle, die dem Begriff »anderes Wissens« bei der Beschreibung von Phänomenen wie Artistic Research und Designforschung mittlerweile zukommt, verweist die philosophische Ästhetik in zweifacher Hinsicht auf ihre Geschichte. Seit Alexander Baumgartens Behandlung der cognitio sensitiva und vor allem seit Kants dritter Kritik sah sich die Philosophie vor die Frage gestellt, was die Eigenart der ästhetischen Erkenntnis gegenüber dem begrifflich-diskursiven Wissen auszeichne. Zugleich ließe sich seit dem ersten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts von einer Kritik am Erkenntnisanspruch der Ästhetik sprechen; eine Kritik, die ebenfalls im Namen eines »anderen« Wissens geführt wurde, insofern sie die Forderung stellte, eine grundsätzlichere Dimension der Kunst freizulegen, als die von der klassischen Ästhetik visierte Erkenntnis. In verschiedener Hinsicht könnten unter anderem Martin Heidegger, Maurice Blanchot, Georges Bataille, Jacques Derrida und Giorgio Agamben in dieser Linie verorten werden. Der Vortrag stellt sich die Aufgabe, die gegenwärtige Diskussion um ein »anderes Wissen« im Spannungsfeld dieser beiden Linien zu rekonstruieren, wobei die besondere Bedeutung hervorgehoben wird, die Momenten der Negativität, des Bruchs und des Entzugs für den Entwurf eines »anderen Wissens« zukommen sollte. In theoretischer Hinsicht wird dafür auf Georges Batailles Ästhetik des Non-Savoir und Giorgio Agambens Poetik der Inoperativität rekurriert, um zu zeigen, inwiefern gegenwärtige Praktiken und Theorien von Unlearning und Deaktivierung in Kunst und Design das Erbe dieser Theorien von Kunst als einem »negativen« Wissen antreten.
Jens Badura: Kraftorte
Die Rede von sogenannten „Kraftorten“ wird in der Regel dem Denkhorizont esoterischer Kreise zugeschlagen. Gleichwohl sind es keineswegs nur obskurantismusaffine Zeitgenoss*innen, die (wenn auch oft hinter vorgehaltener Hand) bekennen, dass sie bestimmte Lokalitäten – Plätze in der Natur, Sakralgebäude usw. – als „Kraftorte“ wahrnehmen und dort besondere Affizierungsmomente verorten.
Diesem Phänomen soll im anvisierten Beitrag zunächst dadurch nachgegangen werden, dass in Bezugnahme auf Theoriekonzepte zum Begriff der Atmosphäre sowie zur Auseinandersetzung mit dem „genius loci“ in der Ästhetik, in der Architekturtheorie, der Theologie und in den Grenzbereichsdiskursen der Parapsychologie ein begriffliches Koordinatensystem zur genaueren Beschreibung des Phänomens „Kraftort“ skizziert wird. Vor diesem Hintergrund soll dann das Modell einer am Institut Kulturen der Alpen geplanten ästhetischen Feldforschung an unterschiedlichen, als solche bekannten, „Kraftorten“ im Alpenraum zur Diskussion gestellt werden.
Panel 20_ HUMANISMUS, POSTHUMANISMUS UND ANTHROPOZÄN: PHANTASIEN UND PHANTASMEN DES ANTHROPOZÄNS (DO 15.07.2021, 09H00)
Chair: Michael Mayer
Sprecher:innen: Stefan Hölscher, Franziska Wildt, Ole Kliemann
Stefan Hölscher: Ludwig Feuerbachs relationales Konzept des Menschen als Teilwesen und das postkoloniale Anthropozän in Grada Kilombas “A World of Illusions” (2019)
In meinem Vortrag möchte ich das Video-Triptychon A World of Illusions (2019) der Autorin und bildenden Künstlerin Grada Kilomba erstens im Hinblick auf ein eurozentrisches Verständnis von Erkenntnis und zweitens vor dem Hintergrund des postkolonialen Anthropozäns als einer Epoche verpasster Begegnungen diskutieren. Ich werde dies tun, indem ich Kilombas künstlerische Arbeit mit Ludwig Feuerbachs philosophischen Überlegungen aus dem 19. Jahrhundert konstelliere, in denen eine in sich abgeschlossene und selbstreferentielle Subjektivität mit einer auf andere hin dezentrierten Subjektivität kontrastiert wird. Indem ich das Problem der Erkenntnis in Kilombas Illusions-Trilogie in Bezug auf Feuerbachs plurales Verständnis des Menschen als „Teilwesen“ betrachte, möchte ich fragen, inwieweit im Verlauf der Kolonialgeschichte für den europäischen Menschen als Individuum sowohl dessen Umwelt als auch dessen Mitmenschen zu Spiegeln seiner selbst wurden, wann immer er meinte, etwas in ihnen zu erkennen. Im Gegensatz dazu entwickelt Feuerbach einen relationalen Begriff der vielen Menschen als in sich geteiltes Gattungswesen, der Wege aus der weißen Subjektivität aufzeigt, die dem postkolonialen Anthropozän zugrunde liegt. Er konfrontiert etwas, das Sylvia Wynter Monohumanismus nennt und das der Ausbeutung von Natur ebenso wie von Menschen gleichermaßen zugrunde liegt, mit der Gleichzeitigkeit und Wechselwirkung einer Vielzahl von „Teilwesen“, die ökologisch und politisch miteinander verstrickt sind, sich gegenseitig begrenzen und voneinander abhängen, noch bevor sie sich erkennen. Feuerbachs Überlegungen zu einem Zusammenspiel von „Teilwesen“ weisen auf einen planetarischen Kontext hin, den Kilombas Video-Triptychon A World of Illusions (2019) durchklingen lässt, wenn durch ihn weiße europäische Männer daran erinnert werden, dass auch sie nur teilweise ganze Menschen sind.
Franziska Wildt: Ästhetik des Widerstands: Zur Politik ästhetischen Denkens
Im Vorwort zur Dialektik der Aufklärung schreiben Adorno und Horkheimer, dass durch die Einschränkung des Denkens auf die Feststellung von Tatsachen und die Einschätzung von Wahrscheinlichkeiten die Menschen der Mittel des Widerstands gegen die kapitalistische Gesellschaft beraubt werden, in der die „Gedanken zur Ware und Sprache zu deren Anpreisung wird“. Ähnliche Überlegungen zum Zusammenhang von Warenform und Denkform finden sich auch bei Alfred Sohn-Rethel, Leo Löwenthal und anderen kritischen Theoretiker:innen. Dass das Denken keineswegs von kapitalistischer Vergesellschaftung unberührt bleibt, sondern durch sie strukturiert wird, impliziert, dass es für den Widerstand gegen diese kapitalistische Form der Vergesellschaftung eines Denkens bedarf, das sich gegen seine Vereinnahmung durch sie sträubt. Die These, die in meinem Beitrag im Anschluss an Horkheimer und Adorno sowie mit und gegen Hegel entfaltet wird, ist, dass ästhetisches Denken im Sinne eines solchen Widerstands verstanden werden kann. Voraussetzung für ein genaues Verständnis dieser These ist eine Kritik der Ästhetik, der sich mein Beitrag im Rahmen einer Gegenüberstellung von Hegels Ästhetik und dem Roman Die Ästhetik des Widerstands von Peter Weiss widmet. Die Ästhetik des Widerstands wird dabei als Umkehrung der Hegelschen Ästhetik gelesen, die sich weniger auf inhaltlicher Ebene, als vielmehr auf Ebene der Form vollzieht.
Ole Kliemann: Bilder der Selbsttransparenz – Lacan und das Begehren des Posthumanen
Die Forschung an künstlicher Intelligenz ist begleitet von Fiktionen darüber, wie sie den Menschen entweder ersetzen wird oder der Mensch die Fähigkeit bekommt, mit den Maschinen zu verschmelzen – eine Überwindung und Beherrschung der eigenen Leiblichkeit sowie des eigenen Geistes durch die Technologie. Der Posthumanismus ist so durchzogen von Bildern eines Menschen, der sich selbst transparent wird und vollständige Erkenntnis und Kontrolle über sein eigenes Sein gewinnt. Der Vortrag vertritt die These, dass sich diese Bilder mit Hilfe von Lacans Konzeption des Phallus erhellen lassen: Der Phallus ist der Signifikant, der die Bedeutungserfülltheit aller anderen Signifikanten garantiert. Ihn zu besitzen, bedeutet den vollständigen Besitz der eigenen Geschichte. Das Begehren des Posthumanen lässt sich so darstellen als das uralte Begehren danach, in Besitz der eigenen Herkunft zu gelangen.
Panel 21_ DIFFERENTIELLE WAHRHEITEN. TRANSGRESSIVE ÄSTHETIKEN JENSEITS DER IDENTITÄTSLOGIK (DO 15.07.2021, 09H00)
Chair: Jörg Sternagel
Sprecher:innen: Sofia Bempeza, Christoph Brunner, Ines Kleesattel
Über Problematisierungen des Identitären – als autoritärer Politik und als epistemologischem Konstrukt – unternimmt unser Panel Verhältnisbestimmungen von differentiellen Wahrheiten und transgressiven Ästhetiken. Wir unterersuchen Wahrheitsansprüche und (post-)identitäre Ethiken unterschiedlich «entgrenzter» ästhetischer Praktiken, indem wir uns mit rechtspopulistischer Post-Faktizität, differentiell- pragmatischer Sinnlichkeit und postkolonial-kritischer Fabulation auseinandersetzen. Entlang dessen diskutieren wir, wie Phänomene der Entgrenzung verschiedenartige epistemische Gewissheiten, politische Notwendigkeiten und Verschiebungen des Wahr-Nehmens implizieren können. Wie lässt sich angesichts der grassierenden Verunsicherung von Identitätspolitiken und verschiedener Bejahungen von Ambivalenz und Relativismus auf differentiellere Wahrheiten Bezug nehmen? Wie kann sich eine politische Sinnlichkeit des Gemeinsamen jenseits von unterkomplexer Dekonstruktion und Universalität als ein situiertes und transgressives Erkennen entwickeln?
Sofia Bempeza (Athen/Lüneburg): Reaktionäre ästhetische Praktiken zwischen Transgression, Populärkultur(en) und Avantgarde- Sehnsucht
Mit Blick auf die Online-Kulturkriege der Neuen Rechten und sogenannte Alt-Right Nerdkulturen (meme wars, LOLitics, Manosphere, Pranksters) zeigt sich eine Verschmelzung von reaktionärer Politik, transgressiver Ästhetik und Populärkultur(en). In den Netzkulturen der Neuen Rechten werden konservative Transgression, Fake und Ambivalenz sowie Tabubrüche und Anti-Konformismus als neuer Mainstream angepriesen – anders gesagt, reaktionäre Ideologie wird als non-konforme Identitätspolitik transgressiv und sogar “humorvoll” verbreitet. Nun hat transgressive Ästhetik in autoritären (und auch völkischen) Subkulturen eine lange Tradition, während die Neuen Rechten versuchen, reaktionäre Konzepte heute erneut anschlussfähig zu machen. Im Hinblick darauf analysiert der Beitrag die Ästhetik der Neuen Rechten und zeichnet ihr visuelles Amalgam und ihre kulturellen Anleihen (aus Antike, Romantik, Avantgarde, Popkultur u. a.) nach. Anschließend fragt er nach kritischen Kunst- und Kulturpraktiken im 21. Jahrhundert, die mittels subversiver Affirmation – jenseits von neo-konservativen nihilistischen Tendenzen, simplem Relativismus oder Post-Ironie – das identitäre Image unterwandern können.
Christoph Brunner (Lüneburg/Montreal): Ästhetische Commons – Eine differentielle Pragmatik der (Post-)Identität
Der Vortrag befasst sich mit dem konstitutiven Verhältnis von Begriff und ästhetischer Erfahrung als kritisches Moment der Erkenntnis. War kulturphilosophisch die Verschiebung des Individuums hin zum Subjekt als Hinwendung zu einem Differenzdenken zu verstehen, so ist ein verstärktes Begehren nach Identität im Fokus gegenwärtiger rechter wie auch progressiver Politiken auffällig. Anhand der Medienästhetiken stark divergierender aktueller politischer Bewegungen – der lateinamerikanischen #niunamenos und #8M einerseits und den europäischen Identitären anderseits – werden unterschiedliche Praktiken ästhetischer Identifizierung analysiert. Anhand ihrer verschiedenen Identitätslogiken wird die Identität des Begriffs ins Verhältnis gesetzt zu einer ästhetischen Gegenkraft der Differenz, wie sie sich in ästhetischen Commons, jenseits eines vereinheitlichten Gemeinsinns, und somit einer “pragmatischen Wahrheit” (William James) wiederfindet.
Ines Kleesattel (Zürich): Die Stimmen der „Natur“ und die ungehörten Schreie der „Chaos-Welt“. Situierte Ästhetik im Interesse des Nichtidentischen
Im Einspruch gegen Kantische Interesselosigkeit erklärt Adorno, „dass es zur Kunst wesentlich hinzugehört, dass sie als interesselose gleichzeitig immer auch das Potential des wildesten Interesses enthalten muß“ – nämlich die „Interessen der Natur“ gegen identifizierendes Denken wahrzunehmen. Der Vortrag spannt einen Bogen von Adornos Kritischer Ästhetik des Nichtidentischen über Glissants post- kolonialer Ésthetique de la Terre zu Haraways und Stengers kosmopolitisch-spekulativer Ökologie. Er wird Adornos historisch-materialistische Natur-Chiffre über das neu-materialistische Natureculture-Konzept aktualisieren und dessen prozessualen Wahrheitsanspruch völkisch-identitären Inanspruchnahmen von “Natur” entgegensetzen. Im Ausgang davon wird eine Situierte Ästhetik skizziert, die anstelle von Identität und Universalismus auf lokale Perspektivität und translokal-relationale Fabulationen setzt – im Interesse einer post-kolonialen „Chaos-Welt“, die „in so vielen geknebelten Stimmen“ spricht, schreit und singt (Glissant).
Panel 22_ BRINGT ZUSAMMEN, WO ES ENTZWEIT. ÄSTHETISCH-EPISTEMISCHE POTENZIALE DER GEGENWARTSKÜNSTE ZWISCHEN EVIDENZGEWINNUNG, PROPAGANDA UND VERSAMMLUNG (DO 15.07.2021, 09H00)
Chair: Anne Gräfe (Akademie der Bildenden Künste München)
Sprecher:innen: Christoph Chwatal, Sebastian Mühl, Lisa Stuckey
Die Gegenwartskünste orientieren sich zunehmend an Modellen der spekulativen Erkenntnis von Wirklichkeit. Seien es gegenhegemoniale Wissensformen, neuartige (para-)institutionelle Strukturen der Versammlung und des öffentlich-Machens, Antizipationen spekulativer Zukünfte anhand von Propaganda oder fallbezogene forensische Untersuchungen: Welche Implikationen haben diese Praktiken in Bezug auf den ästhetisch-epistemischen sowie politischen Ort der Kunst? Christoph Chwatal argumentiert für eine Verschiebung von der Relationalen Ästhetik zu einer Ästhetik der Versammlung. Sebastian Mühl beleuchtet Phänomene unter dem Stichwort einer Ästhetik der Propaganda. Lisa Stuckey widmet sich ausgehend von Forensic Architectures „Investigativen Ästhetik“ einer kritischen Analyse der Evidenzen kasuistischer Erkenntnis.
Panel 23_ JENSEITSVERLUST UND ICHGEWINNUNG – ZUR ERSCHAFFUNG VON KUNST UND SUBJEKT DURCH REFLEXION UND PROSPEKTION DES ZENTRALPERSPEKTIVISCHEN BLICKS (DO 15.07.2021, 09H00)
Chair: Dieter Mersch
Sprecher:innen: Marthe Krüger, Rolf Nemitz, Marie von Heyl
Durch die Erfindung der ‚Zentralperspektive‘ hat sich die alttestamentarische Trennung von Diesseits und Jenseits durch den plötzlich entstandenen unendlichen Raum aufgehoben. Das Bild ist nicht mehr jenseitig, sondern als Objekt unter Objekten diesseitig. Statt des einen Blick Gottes in der ‚Bedeutungsperspektive‘ individualisiert und multipliziert die Zentralperspektive den Blick und wirft das Subjekt auf sich zurück. Das post-sakrale Bild ist potenziell unendlich reflexiv und prospektiv, kann selber aber nicht fassen und nicht erfasst werden. In diesem Scheitern liegen Produktivität und Überschuss seiner ästhetischen Epistemologie als Kunst. Ästhetische Erkenntnis bedeutet in diesem Kontext, Erkennen und Erfahren als eins, basierend auf einer gerade nicht durchgebildeten Subjekt-Objekt- Trennung. Bietet die im Kunstdiskurs verdrängte, gerade nicht auf Distanz beruhende Exegese eine Erkenntnismöglichkeit mit Kunst? Schuf der epistemologische Paradigmenwechsel der Technologie Zentralperspektive neben der Basis für das heutige Bild- und Kunstverständnis auch die Grundlage und vielleicht sogar erst die Notwendigkeit für die Psychoanalyse? Inwieweit verändern heutige Technologien wie Zoom, die das Subjekt als Bezugspunkt im Raum inszenieren, das Verhältnis von Bild und Bild-Ich?
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Panel 16.2_ MUSIK UND ERKENNTNIS II: KÜNSTLERISCHE FORSCHUNG - MUSIKALISCHES KURATIEREN - EPISTEMOLOGIEN DER MUSIK: ZUR ERKENNTNISKRAFT DES KOMPONIERTEN KLANGS (DO 15.07.2021, 11H30)
Chair: Marcello Ruta
Sprecher:innen: Ania Mauruschat, Guido Staudacher
Im Kontext der Diskussion um die Erkenntniskraft komponierten Klangs widmet sich das Panel der Frage nach dem Verhältnis von Musik und Erkenntnis. Es nähert sich ihm aus drei unterschiedlichen epistemologischen Perspektiven:
In ihrem Vortrag «Avraamovs Symphonie der Sirenen als künstlerische Forschung (1922 & 2017)» widmet sich Ania Mauruschat den diversen Experimenten des russischen Komponisten, Theoretikers und Proletkultaktivisten Arseny Avraamov (1886 - 1944). Ihr Höhepunkt war seine 1922 uraufgeführten Symphonie der Sirenen, die lauteste Komposition der Musikgeschichte. Ihre Klänge sollten die Sowjet-Bürger*innen auf die Revolution einschwören. Da die Sirenensymphonie in spezifischen Kontexten jedoch jeweils neu interpretiert werden sollte, schrieb Avraamov bewusst keine Partitur. Entsprechend wurde sie anlässlich des 100. Jahrestages der Oktoberrevolution 2017 unter post-sozialistischen Bedingungen im tschechischen Brno neu aufgeführt. Ein Vergleich der Vorgehensweisen und Erkenntnisse von 1922 und 2017 steht im Zentrum des Vortrags.
Einen gravierenden Wandel der Episteme der Musik thematisiert auch Brandon Fransworth: In seinem Vortrag «Das Kuratieren und der epistemische Wandel der Neuen Musik» untersucht er das Konzept des «Kuratierens», das zunehmend von Musiker*innen und künstlerischen Leiter*innen der Neuen Musik verwendet wird, um ihre Tätigkeiten zu beschreiben. Dabei beleuchtet er die Motive und Ursachen dieses begrifflichen Wandels, der mit sich auch eine Bewegung weg vom Werkkonzept brachte, hin zu einem performativen Musikverständnis, das viele alte grundlegende Prinzipien wie Werktreue oder Arbeitsteilung zwischen Komponist*Innen und Musiker*innen in Frage stellt. Seine Argumentation stützt sich dabei auf die These, dass diesen Transformationen ein fundamentaler epistemischer Wandel der Musik zugrunde liegt.
Guido Staudacher schliesslich fragt in seinem Vortrag «Musik, Wahrheit und Erkenntnis» danach, ob Musik über kognitive Funktionen verfügt, und wie das Verhältnis von Musik und Wahrheit im Rahmen dieser Frage zu verstehen sei. Während ein epistemischer Kognitivismus in einem engen Sinne behauptet, dass Kunstwerke propositionales Wissen vermitteln und somit auf einen Begriff der Wahrheit angewiesen bleibt, lassen sich weitere kognitive Kunstfunktionen nicht auf einen in der Korrespondenztheorie der Wahrheit gegründeten Wahrheitsbegriff reduzieren. Da die Frage nach kognitiven Funktionen der Musik in ihrer Allgemeinheit zu unpräzise gestellt ist, bedient sich der Vortrag einer kontextualistischen Methode: Der Anwendungsbereich der zu untersuchenden Funktionen soll sich auf musikalische Fälle beschränken, welche in die Tradition «absoluter Musik» gestellt werden können.
Panel 25_ ZEIGEN – ARTIKULIEREN – BEZEUGEN. ERKENNTNISMODI IN KUNST, WISSENSCHAFT UND DESIGN (DO 15.07.2021, 11H30)
Chair: Peter Bexte
Sprecher:innen: Johannes Bennke, Bruno Heller, Reinhard Schmidt
Zeigen, artikulieren und bezeugen sind sprachliche Modi der Urteilskraft, um ästhetische Erscheinungsweisen zu beschreiben, die zugleich auch einen Begriff von Ästhetik als Teil einer systematischen Wissenschaft in Frage stellen. Um diese drei Erkenntnismodi genauer zu differenzieren, fragen wir nach Erkenntnisformen in Kunst und Wissenschaft. Während sich objektive Erkenntnis durch Formalisierbarkeit auszeichnet, folgt ästhetische Erkenntnis einer anderen Logik. Diese Erkenntnis auf den Begriff zu bringen, bedeutet immer auch eine Spannung zwischen Anschauung und Begriff, Universalität und Partikularität, Sinnlichkeit und Vernunft. Kritiken objektiver Erkenntnis, etwa der von Edmund Husserl, haben mittlerweile auch Eingang gefunden in die Naturwissenschaften und Informatik. In den Beiträgen fragen wir aus Perspektive der zeitgenössischen Kunst, der kuratorischen Praxis sowie der Gestaltung ethnographischer Publikationen nach Artikulationsformen einer sensualistischen Erkenntniskritik.
Panel 26_ ÄSTHETIK DER DINGE (DO 15.07.2021, 11H30)
Chair: Zhuofei Wang
Sprecher:innen: Stefan W. Schmidt, Thomas Wachtendorf, Thomas Zingelmann
Stefan W. Schmidt: Der Ort der Dinge und die Erscheinung der Welt – Designphilosophie als Fundamentalästhetik
Ausgehend von dem Ausdruck „Ästhetik des Designs“ soll in dem Vortrag gezeigt werden, dass sich Design nicht bloß mit der äußeren Erscheinung von Dingen und Oberflächen beschäftigt, sondern in einem fundamentalen Sinne die Welt im Akt der Gestaltung zur Erscheinung bringt. Gezeigt wird dies einerseits mittels Heideggers Zeug-Analyse sowie seines späten Ortsbegriffs, anderseits mithilfe von Merleau-Pontys Leiblichkeitsanalysen. Leiblichkeit ist die Vermittlung zwischen der sinnlich-materialen Seite der Dinge und ihres Gebrauchs. Design gestaltet sinnliche Zugänge zur Welt, gestaltet unsere Erfahrung der Welt. „Aisthesis meint die sinnlich-affektive Teilnahme an den Dingen.“ (Böhme, „Der Glanz des Materials“, 51) Und genau dieser Teilnahme eine Form zu verleihen, ist Aufgabe von Design. Ästhetik des Designs heißt in diesem Sinne auch Gestaltung der Aisthesis. Der Begriff des Ortes ermöglicht es hierbei nun, die Trias aus Leib, Ding und Weltbezügen in einem einheitlichen Analysebegriff neu zu denken. Er vereint den Gebrauch der Dinge und Aspekte der Leiblichkeit als Grundlage für einen sinnlichen und funktionalen Umgang. Dies führt zu einer topologischen Konzeption von Designästhetik.
Thomas Wachtendorf: Filme, Sinn-Geschichten und Lebenswelt
Unter den Bedingungen der Moderne und des späten Kapitalismus sind Dinge zu bloßen Gegenständen geworden. Dinge haben eine Geschichte, die sich nicht zuletzt aus der Problemstellung, auf die sie sich beziehen oder aus der sie hervorgegangen sind, ergibt. Dinge werden aus Gründen gemacht. Daher enthalten sie durch ihre Form Informationen: ästhetische Erkenntnis über eine Problem- und ihre Sinngeschichte. In der Moderne verschwinden die Produktionsprozesse der Dinge aus dem Alltag immer weiter, die Fähigkeit, Erkenntnisse aus den Dingen zu gewinnen, erodiert. Seit dem visual turn stehen Bilder im Fokus. Die sich daran anschließende Frage ist, ob auch Bilder Erkenntnis vermitteln können. Für Filme jedenfalls ist die Antwort positiv. Als Bewegtbilder, die außerdem von Ton begleitet werden und daher mehrere Sinne ansprechen, können sie eine übersichtliche Darstellung unserer Lebenswelt vermitteln, indem sie die Geschichten der Dinge, aus denen unsere Lebenswelt aufgebaut ist, zeigen.
Thomas Zingelmann: Expositorische Erkenntnis –Philosophie des Ausstellens
Die Möglichkeit nicht-propositionaler Erkenntnis ist das epistemologische Thema der Ästhetik. Kann man sagen, dass Bilder, Kunstwerke oder Kleidungsstücke Behauptungen aufstellen oder seien, die sich überprüfen lassen und von denen gesagt werden kann, dass sie Erkenntnisse seien? In meinem Vortrag möchte ich dies an einem aktuellen Thema diskutieren: Ausstellungen. Es ist ein weit verbreiteter Anspruch, dass Ausstellungen Erkenntnisse generieren. Allerdings ist zum einen nicht klar, was überhaupt eine Ausstellung ist. Zum anderen ist nicht klar, was in diesen Fällen mit Erkenntnis gemeint ist. Für das erste Problem möchte ich folgenden Vorschlag machen: Ausstellungen lassen sich typologisch in Kollektionen und Konstellationen differenzieren. Ermöglicht wird dadurch ein klar umgrenzter Gegenstandsbereich, der deutlich macht, wie mit Ausstellungen gezeigt wird. Für das zweite Problem, wie die Relation Ausstellung und Erkenntnis verstanden werden kann, ist mein Vorschlag: Auf Grundlage der Distinktion von Kollektion und Konstellation, wird deutlich, dass die eine Ausstellungsform der extensionalen Seite und die andere der intensionalen eines Begriffs entspricht. Es lässt sich also der Begriffsumfang, aber auch der Begriffsinhalt zeigen und hierin liegt ihr epistemisches Potential.
PANELSLOT 10
Panel 27_ DIE RADIKALE KUNST DES DENKENS. ÄSTHETIK UND ERKENNTNIS BEI SUSAN SONTAG (DO 15.07.2021, 14H30)
Chair: Kathrin Busch
Sprecher:innen: Angela Lammert, Peter Bexte, Kristina Jaspers, Rüdiger Zill
Die Arbeitsgruppe der vier genannten Personen hat beim letzten Kongress der DGÄ in Offenbach das Werk von Omer Fast aus verschiedenen disziplinären Perspektiven (Kunstgeschichte, Filmwissenschaft, Literaturwissenschaften, Philosophie) vor allem aus dem Zusammenspiel verschiedener Medien heraus interpretiert. In Zürich wollen wir auf eben diese multiperspektivische Weise das Werk von Susan Sontag – als Romanautorin, Regisseurin und Essayistin, aber auch in den Praktiken ihrer Selbstdarstellung (in Tagebüchern, in ihren fotografischen Porträts durch Diane Arbus, Annie Leibovitz u.a.) – analysieren und das spezifisch Ästhetische an ihrem Erkenntnisprozess herausarbeiten – wobei wir unseren eigenen Erkenntnisprozess erneut nicht als Abfolge von vier separaten Vorträgen präsentieren, sondern als Ineinander sich gegenseitig kommentierender Interventionen. Dabei sind es gerade die Bruchlinien (etwa zwischen der Bildkritikerin und der Bildproduzentin), die den spezifischen Erkenntnisprozess der experimentelle Essayistik Sontags über sich hinaustreiben.
Panel 28_ ÄSTHETISCHES DENKEN: ARCHITEKTUR, FILM, NARRALOGIE (DO 15.07.2021, 14H30)
Chair: Katerina Krtilova
Sprecher:innen: Gerhard Martin Burs, Johanna Risse
Gerhard Martin Burs: Virtuelle Kontexte
In der globalisierten Gegenwart überlagern sich Medienwirklichkeit und Realität. Direkte Erfahrungen werden abgelöst durch die Sinnbezüge digitaler Bilderwelten. Simulation und Imagination vermischen sich zu immer neuen Kontexten, die sich in individuelle Rezeption und performative lnszenierung manifestieren. Vor allem Architektur erscheint als ein Brennpunkt für die Frage nach den Grundlagen eines ästhetischen Denkens. Als Raumkunst ist sie im zeitgenössischen Feld in einem dichten Kontext des Medialen eingewebt. In einer digitalen Kultur der visuellen Ästhetik steht hierbei die Frage im Vordergrund, auf was genau sich Entwerfen als primär mentaler Akt der Transformation eigentlich bezieht; genauer: was die Grundbausteine von künstlerischer Handlung sind und wie diese interpretiert werden. Hierzu habe ich die Wechselwirkungen von virtuellen Kontexten auf gesellschaftliche Raumbilder und ästhetische Formungsprozesse anhand medialer Präsentationen untersucht. Es zeigt sich, dass neben der physischen Realität von Orten mitunter der eigenständige Kontext einer virtuellen Ästhetik existiert, der, ikonisch gebunden, ein mediales Ortsdenken evoziert. Darauf aufbauend, wurde von mir das Modell der ,,virtuellen Kontexte“ formuliert. In einem transdisziplinären Ansatz entstand so ein Konzept, virtuelle Räume als Ursprung ästhetischen Denkens und Handelns fundiert erkenntnistheoretisch zu kartographieren.
Johanna Risse: „Narrative Ethik“ am Lebensende von Mensch und Tier: das ethische Potenzial von Sterbeerzählungen in Filmen
Was „narrative Ethik“ bedeutet und wie sie im Verhältnis zur Angewandten Ethik steht, ist umstritten. Die Befürworter sind sich jedoch einig, dass Narrative eine unerlässliche Ergänzung des dominierenden Paradigmas der Prinzipienethik in der Medizin- und Bioethik darstellen. In der „narrativen Ethik“ werden Narrationen daher nicht um ihrer selbst willen in den Blick genommen, sondern als Reflexionsmedium konzeptualisiert, mit dem das moralische Denken erweitert werden kann. In diesem Einzelvortrag soll die spezifische Leistung, die Narrationen in der Bioethik zukommt, anhand von Sterbeerzählungen in fiktionalen Filmen untersucht werden. Filme, die Entscheidungen am Lebensende von Mensch und Tier aufgreifen, existieren mittlerweile in großer Zahl. Im Mittelpunkt steht häufig die Frage, was „gutes Sterben“ ausmacht. Im Vortrag wird die These vertreten, dass erst über Erzählungen ein umfassender Zugang zum Sterben und insbesondere der Perspektive von Sterbenden selbst erlangt werden kann.
Diskussionsforum 8_ BILDER DES COMPUTERSPIELS – ZUR EPISTEMIK VON METAPHERN DER GAME STUDIES (DO 15.07.2021, 14H30)
Chairs: Stephan Günzel, Sebastian Möring
Sprecher:innen: Sonia Fizek, Daniel Martin Feige, Michael Liebe
Die Ontologie des Computerspiels befindet sich spätestens in einer Krise, seit erkannt wurde, dass Wittgensteins Diktum – Spiele teilen kein grundlegendes Set an Eigenschaften, sondern Familienähnlichkeiten – auch für Computerspiele gilt. „Spiel“ kann damit als eine von vielen Metaphern verstanden werden, durch welche sich eine Vorstellung von dem Computerspiel gemacht wird. Demnach hängt das, als was Computerspiele wahrgenommen werden, immer von dem „Bild‘ ab, durch das der Gegenstand betrachtet werden. Das vorgeschlagene Diskussionsforum setzt sich deshalb zum Ziel einige der (absoluten) Metaphern zu hinterfragen, mit denen Computerspiele adressierbar gemacht werden – wie z.B. „Simulation“, „Sport“, „Erzählung“, „Experiment“ etc. – um deren Erkenntnisleistung herauszustellen.
Diskussionsforum 9_ ÄSTHETISCHE NATURBEGRIFFE (DO 15.07.2021, 14H30)
Chair: Rahel Villinger (Universität Zürich)
Sprecher:innen: Thomas Khurana, Hannes Bajohr, Maria Muhle, Juliane Rebentisch
Seit Kants Bestimmung des schönen Kunstwerks als ein Produkt, das Natur zu sein scheint (§45 der Kritik der Urteilskraft: „Kunst kann nur schön genannt werden, wenn wir uns bewußt sind, sie sei Kunst, und sie uns doch als Natur aussieht“) steht im Herzen der europäischen Ästhetik und Poetik eine Dialektik von Kunst und Natur, die von Schillers Kallias-Briefen bis hin zu Blumenbergs These vom Modernismus Paul Klees als „Vorahmung der Natur“ und Adornos Bestimmung der Kunst als „Nachahmung des Naturschönen“ noch im 20. Jahrhundert zentral verhandelt wird. Auch heute wird sie in künstlerischen Praktiken und literarischen Ansätzen wieder aufgenommen, wenn beispielsweise Marion Poschmann in ihrer Dankesrede anlässlich der Verleihung des deutschsprachigen Preises für Nature Writing 2017 von dem Versuch spricht, „einen Baum zu schreiben“ – und hinzufügt: „‚Baum‘ steht hier pars pro toto für den vagen und vieldeutigen Begriff Natur“. In der Tat ist der Begriff der Natur bereits um 1800 vieldeutig. ‚Natur‘ kann in der hier zitierten kunsttheoretischen und poetologischen Tradition unter anderem ein Ding an sich, sinnliche Erscheinung, etwas nicht menschlich Gemachtes, menschliche oder nicht menschliche Natur und nicht zuletzt auch das Wesen eines – natürlichen oder nicht-natürlichen – Dings meinen. Vor diesem Hintergrund versteht sich das Panel zunächst als Exploration eines road-mappings im Dickicht der historischen Begriffe und ihrer Bezüge, die in aktuellen Debatten vielfach aufgenommen und transformiert werden. Im Hinblick auf das zentrale Kongressthema Erkenntnis soll dann gefragt werden: Was für Denk- und Erkenntnismöglichkeiten von Natur stellen Geschichte und Verfahrensweisen der Ästhetik und Poetik bereit? Finden sich darin relevante Alternativen sowohl zu szientifischen und positivistischen Reduktionen von Natur als auch zu Behauptungen, dass sie nicht mehr (Morton) oder noch nicht (Adorno) existiere? Wie verhält sich die klassisch bestimmte „Kunst der zweiten Natur“ (Khurana) zum Begriff einer „dritten Natur“ (Matthes & Seitz), der im Zeitalter des Anthropozäns virulent wird? Und umgekehrt: Was bedeutet die klassisch intrinsische Beziehung auf Natur für Kunst – sowohl theoretisch wie praktisch – heute?